Das Vermächtnis

Schnee liegen sah, jauchzte mein Magen. Siv war hier gewesen! Bestimmt war sie schon bei ihrer Cousine. Ich war so aufgeregt, dass ich nur eine kurze Verschnaufpause einlegte. Dann flog ich durch das wirbelnde Schneetreiben weiter.
    Alle Eulen in N’yrthgar können im Schnee gut sehen, aber meine Augen waren durch den Einfluss der Glut von Hoole noch besser geworden. Bald sah ich die schroffe Küste der Insel aus dem allgegenwärtigen Weiß auftauchen. Im selben Augenblick aber zwickte mein Magen so heftig, dass ich instinktiv kehrtmachte. Ich spürte, dass auf der Insel etwas Furchtbares geschehen war.
    Ich flog zum Eisdolch zurück. Ich wollte mit den Glutstücken aus meinem Hornbehälter ein Feuer entfachen. Vielleicht erfuhr ich ja, was auf der Insel vor sich ging. Und diesmal würde ich nicht untätig bleiben!
    In einem Beutel aus Lemminghaut trug ich immer Flechten und Reisig bei mir. Bald brannte vor mir ein kleines, aber völlig ausreichendes Feuer. Ich setzte mich mit dem Rücken zum Wind, damit mir die Flammen nicht ins Gesicht schlugen. Dann hielt ich im Feuer angestrengt nach Siv Ausschau, konnte sie aber nicht entdecken. Moment mal! Hatte ich denn immer noch nicht begriffen, dass sich Visionen nicht erzwingen ließen? Ich rückte ein Stück von den Flammen ab und versuchte, an nichts Bestimmtes zu denken. Sogleich wurden die Bilder deutlicher. Was ich dann sah, war entsetzlich.
    Ein Hägs-Ga’ lag über den Glaux-Schwestern. Sie waren darin gefangen, als wären sie zwischen knirschenden Eisschollen eingeschlossen. Siv sah ich leider wieder nicht. Aber aufgrund der Spuren wusste ich, dass sie nicht weit sein konnte. Außerdem war es nur logisch, dass sie Zuflucht bei ihrer Cousine gesucht hatte.
    Was nun? Sollte ich mich auf meine Zauberkräfte verlassen oder meinem Verstand folgen? Zwischen Zauberkräften und Verstandeskräften liegen Welten. Beides zu vermengen, kann schlimme Folgen haben, wie ich schon bald feststellen sollte.
    Ich löschte das Feuer und überlegte. Mein Verstand sagte mir, dass ich zu den Glaux-Schwestern fliegen sollte. Zwar hatten mir die Flammen nicht Sivs Bild gezeigt, aber nach allen Regeln der Logik musste sie sich dort aufhalten. Außerdem musste jemand den Hägs-Ga’ brechen, ob Siv nun auf der Insel war oder nicht. Die frommen Schwestern mussten erlöst werden.
    Um einen Hägs-Ga’ zu brechen, braucht man einen Splitter Issen blu. Das ist das härteste Eis, das es gibt. Durch einen Stich mit einem solchen Splitter ist eine gewöhnliche Eule auf der Stelle tot. Eine verfluchte Eule jedoch wird erlöst und ihr Magen befreit. Hier am Eisdolch war ich gerade richtig. Der klingenförmige Felsen mitten im Meer war von oben bis unten von Issen blu bedeckt.
    Als junge Eulen hatten meine Freunde und ich Unterricht im Eismeißeln erhalten. Der alte König H’rathmore hatte uns mit seinem Waffenmeister Stolzfuß hierher zum Eisdolch geschickt. Wir hatten gelernt, wie man mithilfe von Steinen und Eishämmern Eis erntete und daraus Waffen herstellte. Diese Kunst war nur in N’yrthgar bekannt und sie erforderte großes Geschick. H’rath und ich beherrschten sie recht gut.
    Ich machte mich sogleich ans Werk. Den Eissplitter wickelte ich in Flechten, damit ich mich an der scharfen Klinge nicht selbst verletzte. Dann verbarg ich ihn in meinem Schultergefieder.
    Nach zwei Erkundungsrunden landete ich am Ostufer der Insel. Eine vom Alter gebeugte Streifenkäuzin kam aus einem unterirdischen Bau zwischen den wenigen Bäumen getappt. Ich erkannte sofort, dass mein Verdacht berechtigt war. Die Glaux-Schwester stand unter einem Hägs-Ga’. Ihre braunen Augen blickten stumpf und leer. Hinter dem Braun ahnte man das grelle Gelb der Dämonenaugen.
    „Was kann ich für Euch tun, werter Herr?“ Ihre Stimme klang abgehackt und ließ den für Streifenkäuze typischen singenden Tonfall vermissen.
    „Ich möchte hier kurz rasten, wenn es Euch recht ist“, erwiderte ich.
    „Wie wär’s mit einem kleinen Imbiss?“
    „Das wäre sehr freundlich.“
    „Dann kommt mit.“
    Ich folgte ihr unter die Erde. Ich durfte mich von ihrer falschen Freundlichkeit nur nicht einlullen lassen. Wer von einem Dämon besessen war, dem war alles zuzutrauen. Ich musste irgendwie in die Nähe der Glauxissin gelangen. Ich ging nämlich davon aus, dass sich die Dämonen durch ihren Magen Zugriff auf die übrigen Schwestern verschafft hatten.
    Meine Vermutung bestätigte sich leider. Sämtliche Glaux-Schwestern waren