Das Vermächtnis von Thrandor - Der Pfad der Jägerin
gelangten sie zwischen zwei Säulen zum Haupteingang. Zu beiden Seiten des doppelt mannshohen Tores standen zwei weitere Palastwachen regungslos stramm. Auf der Schwelle erwartete sie der oberste Palastdiener, ein älterer Herr von schmächtiger Statur mit kurzem silbergrauem Haar. Mit
dem makellosen dunkelblauen Wams, das zwei Reihen großer Goldknöpfe zierten, und den ebenfalls goldenen Manschettenknöpfen war er vom Scheitel bis zur Sohle der Inbegriff des Gebieters über das königliche Gesinde.
»Baron Keevan, willkommen«, sagte der oberste Palastdiener mit einer tiefen Verbeugung und bedeutete den vieren mit einer ausladenden Geste einzutreten.
»Vielen Dank, Krider. Wir haben uns lange nicht gesehen«, erwiderte der Baron.
»In der Tat, Mylord. Viel zu lange. Bitte folgt mir.«
Der Palastdiener führte sie in die Eingangshalle. Calvyn und Jenna blickten sich in dem riesigen Raum um, bewunderten die Gewölbedecke und die übermannsgroßen Statuen. Schon die schiere Größe der Halle raubte ihnen den Atem.
Webteppiche, die groß genug für eine Mannschaftsunterkunft in Baron Keevans Burg gewesen wären, prangten an den Wänden. Jeder war ein Kunstwerk für sich, dessen Herstellung mit Sicherheit Jahre gedauert hatte. Abgebildet waren Szenen aus der thrandorischen Geschichte und Sagenwelt. Calvyn fiel ein Wandteppich ins Auge, auf dem Derrigan Darkweavers Niederlage dargestellt war. Die Szene aus dieser magischen Schlacht zog ihn im Vorübergehen geradezu in ihren Bann. Er widerstand jedoch der Versuchung, sie sich genauer anzusehen, und folgte stattdessen dem Baron.
Mitten durch die mit Steinplatten geflieste Halle führte ein breiter, flauschiger Läufer im königlichen Purpur. Krider ging eiligen Schrittes voran.
Er führte die vier aus der Eingangshalle hinaus durch mehrere Korridore, bis sie schließlich an ihr Ziel gelangten, einen Raum, dessen große Doppeltür offen stand und aus dem gedämpft Stimmen zu hören waren. Krider fragte
nach den Namen des Hauptmanns und der beiden Gefreiten und betrat dann den Raum.
»Baron Keevan und Hauptmann Strexis«, rief er mit dröhnender Stimme, und die beiden Genannten schritten energisch in den Raum. Hinter Calvyn und Jenna trafen weitere Besucher ein, doch ehe sie erkennen konnten, wer oder wie viele es waren, wurden auch sie angekündigt.
»Gefreiter Calvyn, Sohn des Joran, und Jenna, Tochter des Nathan.«
Calvyn und Jenna traten in den großen quadratischen Saal. Der König saß auf seinem Thron, der in der Mitte des Raums auf einem erhöhten Podest stand. Rund um das Podest schlossen sich mehrere aufsteigende Sitzreihen an, wie in einem Amphitheater, dessen Bühne der Königsthron bildete.
Calvyn und Jenna verbeugten sich vor dem König und wurden dann mit dem Baron und dem Hauptmann zu ihren Plätzen geführt. Calvyn setzte sich und musterte die Anwesenden.
»Lord Valdeer und Hauptmann Lobaire«, kündigte der Diener an. Calvyn blickte zum Eingang, wo die vertraute Gestalt des Lords aus Nordthrandor den Thronsaal betrat.
In rascher Folge wurden weitere Namen verlesen und die freien Plätze füllten sich zusehends. Schließlich schlossen sich die Metalltüren mit einem leisen Quietschen, dem ein dumpfer Schlag folgte, und alle Augen waren auf den König gerichtet.
Es folgte eine bedeutungsvolle Pause, in der die Spannung im Thronsaal spürbar stieg. Der König wirkte müde, fand Calvyn. Dunkle Schatten unter den Augen ließen erkennen, dass er in letzter Zeit wenig geschlafen hatte, und aus der zusammengesunkenen Haltung sprach körperliche und seelische Erschöpfung.
Der König atmete tief ein. »Mitbürger von Thrandor. Wir, die Vertreter unseres Volkes, haben uns in diesem Saal versammelt, um über die schwerwiegenden Ereignisse der letzten beiden Wochen zu beraten. Es ist viel geschehen und noch mehr zu tun, bis in unserem Lande wieder Frieden und Ordnung herrschen. Wir haben gestern einen großartigen Sieg errungen, doch er hat viele gute Menschen das Leben gekostet. Der langjährige Friede zwischen Thrandor und den Nomadenstämmen der Terachim-Wüste wurde gebrochen. Bislang wissen wir nicht, wie die Feindseligkeiten zu erklären sind. Es gibt jedoch einen, der die Antwort auf diese Fragen kennt. Er muss sich dafür verantworten, dass er viele Tausend Menschen in den Krieg geführt hat. Wachen, bringt den Gefangenen herein.«
Wieder erfüllte das Quietschen der metallenen Türangeln den Saal, die Doppeltür schwang auf und die gebeugte
Weitere Kostenlose Bücher