Das verstummen der Kraehe
»Mein Bruder ist vor sechs Jahren verschwunden. Und ich habe erst jetzt erfahren, dass er sich vermutlich als Samenspender zur Verfügung gestellt hat. Es wäre doch möglich, dass …«
»Verstehe«, unterbrach sie mich. »Warten Sie bitte einen Moment.« Sie ging zum Fenster und hielt nach ihrer Tochter Ausschau, die nicht mehr auf der Schaukel saß. Als sie das Kind entdeckt hatte, kam sie zum Tisch zurück. Sie sah mich forschend an. »Sagen Sie, Ihr Bruder, ist das zufällig der, nach dem so lange gesucht wurde? Damals hingen überall Plakate.«
»Ja, das ist Ben.«
Sie nahm das Foto wieder zur Hand. »Auf diesem Foto sieht er ganz anders aus als auf den Plakaten.«
»Sie erinnern sich an das Foto auf den Plakaten?«
»Ja. Darauf habe ich ihn damals ja wiedererkannt.«
»Was?«, fragten Martin und ich wie aus einem Mund.
Sie zuckte zusammen und schien in diesem Augenblick zu begreifen, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie nahm die Kaffeekanne zur Hand, schenkte uns nach, obwohl unsere Tassen noch fast voll waren, und ging dann dazu über, die restlichen Muffins auf dem Teller neu zu drapieren. Schließlich schaute sie auf die Uhr und meinte, sie hätte jetzt eigentlich keine Zeit mehr, sie müsse sich um ihre Tochter kümmern.
»Das heißt«, sagte ich behutsam, »Sie haben ihn vor seinem Verschwinden schon einmal gesehen. Wann war das?«
»Wieso ist das wichtig?«
»Haben Sie Geschwister?«
»Zwei Schwestern.«
»Stellen Sie sich vor, eine der beiden würde spurlos verschwinden …«
»Ich habe ihn mehr als einmal gesehen. Im Institut.«
»Und wann zuletzt?«, fragte Martin.
Sie brauchte nicht lange zu überlegen. »Das war ungefähr ein halbes Jahr vor dem Mord, für den Doktor Lenhardt eingesperrt wurde.«
»Frau Leitner«, nahm ich den Faden auf, »Sie sagten, Sie hätten ihn mehr als einmal gesehen. Wissen Sie, was er im Institut wollte oder mit wem er dort zu tun hatte?«
»Er hatte mit Doktor Lenhardt zu tun, aber …«
»Ganz sicher mit Fritz Lenhardt?«
»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen.« Sie wirkte aufgebracht. »Ihr Bruder war homosexuell. So hat es in den Zeitungen gestanden. Wenn Sie meinen, dass …« Sie schluckte schwer. »Doktor Lenhardt hatte nichts mit ihm. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.«
Ich trank einen Schluck Kaffee. Ihr Blick wanderte nervös im Raum umher.
»Wie war das damals für Sie, als er wegen Mordverdachts verhaftet wurde?«
»Entsetzlich. Sie haben ihn einfach abgeholt. Mitten am Tag.« Sie sagte es so, als wäre jede andere Tageszeit eine bessere gewesen. »Kamen ins Institut, fragten am Empfang nach ihm und führten ihn in Handschellen ab. Er sagte noch zu mir, ich solle mir keine Sorgen machen, das sei ganz sicher ein Irrtum. Und dann ist er nie wiedergekommen. Und hat sich im Gefängnis …« Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und wischte sich damit über die Augen.
»Glauben Sie, dass er unschuldig war?«
Sie nickte mit Nachdruck.
»Und die anderen Mitarbeiter im Institut?«, fragte ich weiter.
»Wir waren uns alle einig, dass sie mit Doktor Lenhardt den Falschen verhaftet hatten.«
»Auch noch, nachdem er verurteilt worden war?«
»Warum hätte denn das Urteil etwas daran ändern sollen?«, fragte sie überrascht.
Diese Frage machte sie mir sehr sympathisch. Unweigerlich musste ich lächeln.
»Ich konnte seine Frau gut verstehen, sie hat nie aufgegeben«, fuhr sie fort. »Hätte ich an ihrer Stelle auch nicht. Aber sie ist dran kaputtgegangen.«
Einen Moment fragte ich mich, ob beide Frauen einen verklärten Blick auf Fritz Lenhardt gehabt hatten. »Frau Leitner, Sie sagten, mein Bruder hätte mit Doktor Lenhardt zu tun gehabt. Was war denn genau dessen Aufgabengebiet im Institut?«
»Er hatte mehrere.«
»War er auch für die Samenbank und die Auswahl der Spender zuständig?«, fragte Martin.
Ihr Widerstreben stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Das war er, aber … Ich muss jetzt wirklich weitermachen.« Sie stand auf und bewegte sich Richtung Tür.
In diesem Augenblick begriff ich, was ihr zu schaffen machte. »Doktor Lenhardt hat es auch erst aus den Zeitungen erfahren, nachdem mein Bruder verschwunden war, nicht wahr?«
Sie atmete tief ein und schien sich beim Ausatmen etwas zu entspannen. Ihr Nicken war kaum erkennbar.
Martin sah mich verständnislos an, hielt sich aber zurück.
»Und er hat Sie und alle anderen gebeten, Stillschweigen darüber zu bewahren, dass mein homosexueller Bruder für das
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