Das weingetränkte Notizbuch: Stories und Essays 1944-1990Fischer Klassik PLUS (German Edition)
Publikum. Mit voller Wirkung. Ein Mann wurde auf beiden Augen blind; eine Frau behielt einen Katarakt im linken Auge zurück; ein Mann würde auf dem einen Ohr nie wieder hören können. Okay, das ist Zirkus; es ist sauberer als Vietnam.
Blumensträuße fliegen. Einer trifft Mick im Gesicht. Mick will einen großen runden Luftballon platttreten, der auf der Bühne landet. Es gelingt ihm nicht. Man wird traurig dabei. Mick rennt auf die andere Seite, springt hoch und tritt einen seiner Geiger in den Hintern. Der Geiger gibt ihm ein Lächeln dafür, sanft und wissend: wissend, dass die Kohle stimmt.
Die Bühne wiegt so viel wie 40 Elefanten und ist sternenförmig. Mick tritt an den Rand des Sterns; er wendet sich jedem Teil des Publikums einzeln zu, jedem für sich, und dann nimmt er das Mikro vom Gesicht und formt mit den Lippen ein lautloses FUCK YOU. Sie reagieren.
Der Rand des Sterns hebt sich, Mick kommt aus dem Gleichgewicht, purzelt in die Bühnenmitte und verliert sein Mikro.
Es geht weiter. Ich bekomme einen Vorgeschmack vom Ende. Wird es »Sympathy for the Devil«? Wird es so sein wie im Santa Monica Civic? Leiber, die sich durch die Reihen drängeln, und junge Footballspieler, die die Rockfans windelweich prügeln? Damit Micks Zufluchtsort und sein Körper und seine Seele unangetastet bleiben? Ich wurde da eingezwängt zwischen Knöcheln, Schamhaaren, Milchleibern und Zuckerwattehirnen. Bloß nicht noch mal. Ich verschwand. Ich verschwand, als das Licht anging und die Himmelsszene bevorstand mit dem Aufruf, einander zu lieben und die Musik und Mick und den Rock und das Bewusstsein zu lieben.
Ich war früh dran. Draußen schien man sich zu langweilen. Eine Schar junger Mädchen ohne Titten in Jeans und T-Shirts waren zu sehen. Ihre Kerle nicht. Sie saßen auf Stoßstangen, vorwiegend auf den Stoßstangen von Wohnmobilen. Die jungen blonden Dinger ohne Titten in T-Shirts und Jeans. Sie waren gleichgültig, stoned, teilnahmslos, aber nicht bösartig. Kleine schmalhüftige Mädchen mit Muschis und Liebesgefühlen und Perioden.
Also ging ich raus zum Wagen. Das Mädchen lag schlafend auf der Rückbank. Ich stieg ein und fuhr los. Sie wachte auf. Ich musste sie heim nach New York schicken. Wir verstanden uns nicht. Sie setzte sich.
»Ich bin schön früh weg. Der Scheiß ist nur noch tödlich«, meinte sie.
»Na ja, der Eintritt war umsonst.«
»Schreibst du drüber?«
»Weiß ich nicht. Es hat nichts bei mir ausgelöst. Rein gar nichts.«
»Lass uns was essen.«
»Klar, das ist ’ne Idee.«
Ich fuhr auf der Crenshaw nach Norden und hielt Ausschau nach einem netten Lokal, wo man was trinken konnte und keine Musik zu hören bekam. Die Kellnerin durfte ruhig meschugge sein, solange sie nicht pfiff.
Pferdewetten
WIE MAN AUF DER RENNBAHN GEWINNT ODER WENIGSTENS KEINEN VERLUST MACHT
Fangen wir mit ein paar Verboten an.
Ein klarer Kopf muss sein. Quälen Sie sich nicht durch den Last-minute-Verkehr, um auf die Rennbahn zu kommen. Kommen Sie entweder frühzeitig und machen sich in Ruhe an die Arbeit, oder kommen Sie so um das zweite, dritte, vierte Rennen. Holen Sie sich einen Kaffee, setzen Sie sich hin und atmen Sie ein paarmal durch. Machen Sie sich klar, dass Sie nicht im Traumland sind, dass Geld nicht verschenkt wird und dass es eine Kunst ist, die Pferde zu besiegen, dass Künstler aber rar gesät sind.
Nehmen Sie niemanden mit auf die Rennbahn. Wenn Sie sich um irgendwen kümmern müssen, schauen müssen, wie er klarkommt, ob er einen Hot Dog, eine Cola oder einen Whiskey sour will, verringert das Ihre Aussichten, unbeschwert nachzudenken und die richtigen Wetten anzulegen, nur noch mehr.
Setzen Sie sich auf der Bahn nicht neben die Großmäuler und die Ratschläger. Diese Leute sind Gift. Die haben keine Ahnung und sind einsam. Die wollen reden. Nach deren Meinung sind wir lauter gute Kerle, die im selben Boot sitzen, und alle zusammen können wir die Bahn schlagen. Da ist nichts Wahres dran. Die Leute wetten gegeneinander. Ungefähr 16 Prozent vom Dollar gehen ab, die Hälfte davon an die Rennbahn, die andere Hälfte an den Staat Kalifornien. Den Restbetrag schüttet der Totalisator in Form von Wettgewinnen aus.
Gehen Sie nicht auf die Rennbahn, wenn Sie knapp bei Kasse sind, nicht mit geborgtem Geld, nicht mit dem Geld für die Miete oder fürs Essen. Unverhofft erlangtes Geld ist besser, eine Steuerrückzahlung oder so etwas. Wenn Sie Geld setzen, das zu verlieren Sie sich leisten
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