Das Wiegen der Seele (German Edition)
bekommen.
Nettgen betrachtete nun diese Pinnwand und grübelte mit fast masochistischem Eifer über einen Schlüssel zu den Ereignissen. Ganz oben links hatte er die ersten Übersetzungen der Hieroglyphen angeheftet, dahinter in Reihenfolge die noch nicht enträtselten. Darunter die Fotos des Leichnams und die Informationen, die ihm Frau Crampton gegeben hatte. Jede Kleinigkeit, jede noch so irreführende Information, jeder Anhaltspunkt fand seinen Platz auf der Wand.
Ein paar Minuten lang vertiefte er sich in die verschiedenen Puzzleteile, dann wandte er sich wieder seinem Schreibtisch zu.
Nettgens müdes Gesicht hellte sich auf. Ermattet, aber trotzdem hochmotiviert machte er sich an die Arbeit. Die Neugierde trieb ihn an, die nächsten Hieroglyphen zu entschlüsseln. Er ging zu seinem Auto und holte die Bücher, die er von zu Hause mitgebracht hatte.
* * *
Die Stunden vergingen. Draußen dämmerte es bereits. Die Schreibtischlampe tauchte das Zimmer in ein schwaches Licht. Aus dem CD-Spieler ertönte eindringliche Musik. Das dritte Foto und somit das dritte Symbol zeigte eine Mumie auf dem Totenbett. Nettgen kämpfte sich durch die Bücher der ägyptischen Mythologie. Er fand heraus, dass die Mumie auf dem Totenbett einen Bezug zum Tod hatte. Soviel h a tte er auch selbst geahnt ...
Das vierte Symbol stellte für Nettgen den Grundriss einer Stehlampe dar, durch deren Schirm waagerecht ein Pfeil gebohrt war. Damit konnte er nun gar nichts anfangen. Wer erschießt schon eine Stehlampe, noch dazu eine, die es damals gar nicht gab? – Das musste wohl etwas anderes bedeuten, also zwang sich Nettgen, noch abstrakter zu denken. Nach langem Durchforsten der Literatur entpuppte sich die Zeichnung als von einem Pfeil durchbohrte Haut. Was das zu bedeuten hatte, konnte er allerdings nicht herausfinden.
Das Rätsel des fünften Bildes konnte Nettgen ohne Mühe lösen. Es stellte einen gefesselten Gefangenen dar, der als Feind , Rebell oder Fremder gedeutet werden konnte.
Nettgen heftete jedes entschlüsselte Symbol, das er auf einem separaten Blatt Papier aufzeichnete, an die Pinnwand. Schließlich blieb nur noch eine letzte Hieroglyphe übrig, die ihm regelrecht Kopfschmerzen bereitete.
Dargestellt war ein Viereck, dessen untere Linie kurz unterbrochen wurde. Nach langen Recherchen entschlüsselte er daraus den Grundriss von Häusern, Gebäuden oder Bauwerken.
Innerhalb dieses Symbols befand sich noch ein weiteres. Zu sehen war eine Art Bogen, an dem merkwürdige Zapfen herunterhingen. Im ersten Moment wirkten diese Zapfen auf ihn wie Partylampions, und Nettgen hätte sich auch leicht davon beeinflussen lassen, hätte ihm nicht – ähnlich wie bei der Stehlampe – ein Zeitversatz von rund dreitausendfünfhundertsiebzig Jahren den Gedanken aus dem Kopf geschlagen.
Er war so in seine Arbeit vertieft, dass er es nicht bemerkte, als Löffler zu fortgeschrittener Uhrzeit wortlos sein Büro betrat, um ihn mit einem Kaffee zu motivieren. Erschreckt zuckte er zusammen.
„Löffler“, rief er , „musst du dich immer so hereinschleichen? Es kommt der Tag, da zerreiße ich dich in tausend Teile . “ Nettgens Kugelschreiber verfehlte Löfflers Arm nur knapp, streifte aber sein hellblaues Oberhemd und hinterließ einen dünnen, aber sichtbaren Tintenstreifen.
„Danke! Vielen Dank, Kollege“, meckerte Löffler und versuchte, den Streifen wieder herauszurubbeln, indem er sich den Finger mit Spucke anfeuchtete und über die Stelle strich.
„War ein Scherz...“, grinste Nettgen. „Danke für den Kaffee, du bist der Beste. Bin ziemlich im Stress und genervt. Ich blicke einfach nicht hinter diese Zusammenhänge und was das alles zu bedeuten hat. Tut mir leid. Aber du hattest recht, dieser Krums ist ein komischer Kauz. Der ist mir heute so gegen den Strich gegangen, ich hab ihn wieder nach Hause geschickt. Aber den knöpfe ich mir nochmal vor.“
„Schon gut, Ralf, verstehe ich“, meinte Löffler.
Nettgen blickte zu Löffler.
„Ein kühler Killer oder Rächertyp? Was meinst du?“
„Hm... Schwierig zu sagen, bin ein Laie, was das Erstellen von Täterprofilen angeht. Auftragskiller? Wäre doch die einfachste Variante. Ist fast nie nachzuweisen, weil alles über Kontaktleute abgewickelt wird. Der Täter kommt von wo auch immer, erledigt seinen Auftrag, kassiert die Takken und taucht für ewig ab. Zwischen Auftraggeber und Mörder ist eine direkte und persönliche Verbindung in der Regel nicht nachweisbar.
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