Das Wiegen der Seele (German Edition)
die Glasplatte hinweg nach seiner Hand. Ihre Hände fühlten sich angenehm kühl und zart an. Er schaute ihr tief in die Augen, in denen eine verzweifelte Bitte um Verständnis und Zuneigung zu liegen schien.
„Sicher... Sie haben recht, ich brauche ein wenig Zeit und Ruhe, um das zu verarbeiten“ , flüsterte sie und Nettgen beobachtete jede Regung ihres Gesichtes. Sie schien wirklich bewegt zu sein. Er stand auf, zog behutsam seine Hand unter der ihren hervor und legte sie auf ihre Schulter.
M aria Crampton schüttelte nur den Kopf. „Ich verstehe das alles nicht. Oh Gott, er hat mich noch nie als seinen Stern bezeichnet ...“ Tränen liefen über ihre Wangen. „Warum hatte er nur solche Angst? So kannte ich ihn gar nicht.“
„Ich weiß es nicht, aber ich werde der Sache auf den Grund gehen, das verspreche ich I hnen.“
Er wandte sich von Frau Crampton ab und verließ das Haus.
* * *
Das Wetter verhieß einen heißen, wolkenlosen Tag. Es war kurz nach halb zehn und schon zu dieser frühen Stunde stand das Thermometer auf achtzehn Grad.
Nettgen war auf dem Weg ins Büro. Er hatte es eigentlich nicht eilig, aber nun, fast am Ziel angelangt, wurde er immer unruhiger. Seine Gedanken drehten sich die ganze Zeit nur um den Brief. Er stellte sich unzählige Fragen, auf die er keine Antwort fand. Nettgen fuhr am Kiosk vorbei, wo er sich regelmäßig seine Zigaretten und gelegentlich die Tageszeitung kaufte. Ihm fiel ein, dass sich sein Zigarettenvorrat dem Ende neigte. So suchte er einen geeigneten Parkplatz, um noch schnell eine Packung am Kiosk zu kaufen, ehe er weiter zum Büro fuhr Ein paar Straßen weiter entdeckte er eine Parklücke und steuerte den Wagen rückwärts zwischen zwei Autos. Beim Einlegen des Rückwärtsgangs krachte es laut. Nettgen schlug genervt mit der Hand auf sein Lenkrad schimpfte wütend „Scheißkarre!“ vor sich hin.
Er stieg aus und schlug die Fahrertür mit Schwung ins Schloss. Dann ging er zum Kiosk, kaufte eine Packung Zigaretten ohne Filter, einen Kaffee und nahm sich aus dem Ständer die aktuelle Tageszeitung hervor. Er stellte sich an den Bistrotisch, trank genüsslich und blätterte in der Zeitung. Auf der Titelseite las er in Großbuchstaben:
Mysteriöser Mord am Baldeney See – Polizei tappt im Dunkeln
Nettgen las sich den Bericht durch, schmunzelte und legte die Zeitung zurück in den Ständer. Plötzlich überkam ihn ein seltsames Gefühl. Er fühlte sich beobachtet, blickte sich um, konnte aber nichts Außergewöhnliches feststellen. Er nippte wieder an seinem Kaffee, zündete sich eine Zigarette an und versuchte, das Gefühl als Verfolgungswahn abzutun. Er versuchte krampfhaft, an was anderes zu denken. Doch erneut läuteten seine Alarmglocken und ruckartig drehte er sich um. Er blickte auf zwei Gestalten, die sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befanden und geradewegs zu ihm hinüberschauten. Er kannte diese Männer nicht, hatte sie nie zuvor gesehen. Er wandte sich wieder von ihnen ab, überlegte einen Augenblick und schnellte rasant wieder um. Die beiden Typen waren weg, wie vom Erdboden verschluckt.
Einen Moment lang erwog er, ob er einfach auf die Straße rennen und sie verfolgen sollte, doch dann besann er sich eines Besseren und inhalierte einen tiefen Zug seiner Zigarette.
„Drehe ich jetzt komplett am Rad, oder was hat das zu bedeuten?“, grübelte Nettgen laut vor sich hin. Intensiv überlegte er, ob ihm diese Männer bekannt vorkamen. Im Polizeidienst lernte er viele Menschen kennen, darunter meist Personen, die ihn in schlechter Erinnerung hatten, ihn hassten oder die ihn gar am liebsten um die Ecke bringen würden. Diese beiden Gestalten jedoch hatte er noch nie zuvor gesehen.
Die beiden hatten dunkle Anzüge getragen. Der größere der beiden hatte einen Vollbart, der kleinere einen Oberlippenbart. An mehr Einzelheiten konnte sich Nettgen trotz seiner geschulten Auffassungsgabe nicht erinnern, so sehr er sich auch anstrengte. Die Männer waren weg. Die Frage, ob ihm seine Nerven einen Streich gespielt hatten, blieb.
Er leerte seinen Kaffee, schnippte die Kippe weg und machte sich auf den Rückweg zum Auto. Die Bürgersteige waren voller Passanten, die ihren Einkauf erledigen oder einfach nur bummeln wollten. Ein Inline-Skater näherte sich Nettgen so gefährlich, dass er einen hastigen Sprung zur Seite machte.
„Pass doch auf, du Idiot!“, rief er dem Skater nach und zeigte ihm einen Vogel. Nur noch eine
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