Das Winterhaus
neunundzwanzig. Nur neun Jahre älter als sie selbst, dachte Robin erschrocken, während sie die magere, bleiche Frau betrachtete, die das Baby in den Armen hielt. Mr. Lewis erhielt fünfundzwanzig Shilling die Woche von der Sozialhilfe, und die Miete für das Haus betrug zehn Shilling und sechs Pence.
»Wir sind in Verzug«, sagte Mrs. Lewis. »Der Hauswirt hat uns noch bis Freitag Zeit gegeben.« Ihre Stimme war tonlos, verriet weder Angst noch Bekümmerung.
Robin mußte sich zwingen, an Dr. Mackenzies Warnungen zu denken. »Mischen Sie sich nicht ein. Bleiben Sie objektiv.«
»Wie viele Kinder haben Sie, Mrs. Lewis?«
»Lily und Larry und die beiden in der Schule. Und das Baby. Und Mary, da drüben.«
Zuerst glaubte sie, Mrs. Lewis meine, ihre Tochter sei draußen im Hof beim Spielen. Dann aber hörte sie die wimmernde Stimme aus dem Raum nebenan und folgte Mrs. Lewis in die Küche. Ihre Augen brauchten einen Moment, um sich auf die schlechte Beleuchtung einzustellen. Als Robin das Kind sah, würgte es sie. Mary kauerte in einem großen Haufen voller schmutziger, zerrissener Decken. Wie ein Hund, dachte Robin. Aus ihrem offenen Mund rann Speichel, ihre Augen wirkten glasig, ihr Haar war verfilzt.
»Sie ist nicht ganz in Ordnung«, erklärte Mrs. Lewis. »Seit ihrer Geburt nicht. Komm, sei still jetzt, Mary.«
»Wie alt ist sie?«
»Sie war zehn im April. Sie ist meine Älteste.«
Robin kniete neben dem Korb nieder und streichelte behutsam das schmutzige Gesicht des Kindes. »Hallo, Mary« Mary umfaßte Robins Finger und wiegte sich kauernd hin und her.
Mrs. Lewis fügte hinzu: »Mein Jack ist wirklich gut zu ihr, aber mit der Rückenverletzung kann er sie nicht mehr rauftragen, wissen Sie. Drum muß sie hier unten schlafen.«
Irgendwie schaffte es Robin, das Gespräch zu beschließen. Ihre Hand zitterte, als sie niederschrieb, wovon die Familie sich in der Regel ernährte – Brot, Margarine und Käse. Als sie fertig war, kramte sie in ihrer Tasche und nahm eine Handvoll Bonbons heraus.
»Für die Kinder. Und könnten Sie mir den Namen Ihres Hauswirts nennen, Mrs. Lewis?«
Mrs. Lewis' Hauswirt wohnte einen Kilometer entfernt in einem Haus, das größer und komfortabler, aber nicht sauberer war als das seiner Mieter. Robin mußte fünf Minuten lang an die Tür trommeln, ehe ihr geöffnet wurde. Eddie Harris war groß und breitschultrig und erschien in Begleitung eines großen Hundes.
Nachdem er Robin in ein Zimmer geführt hatte, in dem überall leere, fetttriefende Pommestüten und leere Bierflaschen herumlagen, musterte er sie argwöhnisch. Robin berichtete ihm kurz von ihrer Untersuchung.
»Ich habe heute morgen einige Ihrer Mieter aufgesucht, Mr. Harris. Die Familie Lewis in der Walnut Street hat mir gesagt, daß sie mit der Miete im Verzug ist.«
Er zog ein abgegriffenes Notizbuch aus einer Schublade und blätterte darin. »Ja, die sind fünf Wochen im Verzug.«
»Mrs. Lewis hat mir gesagt, daß Sie räumen lassen, wenn sie bis zum Ende der Woche nicht bezahlen.«
»Sechs Wochen ist die übliche Frist.«
»Könnten Sie nicht noch etwas zugeben, Mr. Harris?«
Er rülpste. »Sechs Wochen ist das Übliche. Das ist ordentliches Geschäftsgebaren.«
Sie dachte an das schreckliche kleine Haus mit den feuchten Wänden, ohne jeden Komfort. »Vielleicht könnten Sie die Miete heruntersetzen, Mr. Harris, dann würde es der Familie sicher leichter fallen zu bezahlen.«
Erst starrte er sie fassungslos an, dann lachte er und zeigte seine schwarzverfärbten Zähne. »Die Miete runtersetzen? Können Sie mir mal sagen, warum ich das tun sollte, Miss?«
»Weil das Haus nicht das wert ist, was Sie verlangen.«
Die Erheiterung in den kleinen scharfen Augen erlosch. »Ich weiß ein halbes Dutzend Familien, die sich nach so einem hübschen kleinen Haus die Finger lecken würden.«
Robin zwang sich, höflich zu bleiben. »Mr. Harris – Sie wissen doch sicher, daß die Miete für ein Anwesen, das so heruntergekommen ist wie in der Walnut Street, hoch ist. Vielleicht wissen Sie nicht, daß Mr. Lewis arbeitslos ist und daß die Familie sechs Kinder hat, darunter eine Tochter, die seit ihrer Geburt chronisch krank ist. Wohin sollen diese Menschen gehen, wenn Sie sie hinaussetzen?«
»Das geht doch mich nichts an.« Er musterte sie scharf mit seinen kleinen Wieselaugen. »Und Sie auch nicht, finde ich.«
Die Art, wie er sie anstarrte, beunruhigte sie. Sie hatte wie immer ihren grünen Samtmantel an und
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