Das zerbrochene Siegel - Roman
Fremden auf dem Marktplatz entsprach, doch der Scholasticus schüttelte den Kopf. Aber bei Bandolfs Frage nach Lothar von Kalborn erhellte sich sein Gesicht. »Lothar von Kalborn ist vor einigen Tagen nach Worms gekommen und nahm Quartier in der Bischofspfalz. Soviel ich weiß, ist er ein Lehnsmann des Markgrafen von Braunschweig.«
»Woher wisst Ihr das?«, erkundigte sich Bandolf.
Bruder Goswin lachte: »Eigentlich solltet Ihr das auch wissen. Bei der Messe anlässlich des Frühlingsfestes stand er im Dom direkt hinter Euch. Und während des anschlie ßenden Banketts in der Pfalz saß er Eurer Gattin gegenüber.«
In Bandolfs Kopf formte sich das Bild eines hochgewachsenen Mannes, der Matthäa mit abstrusen Geschichten über seine Reisen für sich eingenommen hatte. »Zum Teufel auch, das war Lothar von Kalborn? Was will er hier in Worms?«
Mit einem erheiterten Lächeln, das dem grimmigen Ausdruck im Gesicht des Burggrafen galt, zuckte Bruder Goswin die Schultern.
»Na schön«, brummte Bandolf. »Ich werde ihn selbst fragen.«
»Glaubt Ihr denn, er hat etwas mit dem Mord an Ulbert zu schaffen?«, fragte Goswin neugierig.
»Ich weiß nicht einmal, ob Lothar Ulbert überhaupt kannte«, gab Bandolf zu und seufzte. »Im Moment greife ich noch nach jedem Strohhalm.«
Erhitzt strich sich Garsende eine vorwitzige Strähne aus der Stirn, die sich aus ihrem langen Zopf gelöst hatte. An ihrer Hand haftete feuchte Erde und hinterließ einen breiten Schmutzstreifen über der Augenbraue. Seit dem Morgengrauen arbeitete sie schon in den Beeten vor ihrer Hütte, lockerte den Boden um die Sträucher, riss Unkraut aus und bereitete die Beete für neue Pflänzchen vor, die bis zum Sommer wachsen und gedeihen sollten.
Fest entschlossen, sich von den Ereignissen der letzen Tage nicht aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen, hatte sie sich am Abend niedergelegt, tief und traumlos geschlafen, und war am Morgen erfrischt und mit sich selbst im
Reinen erwacht. Die Arbeit im Freien hatte dazu beigetragen, sie ihre Gelassenheit wiederfinden zu lassen.
Nach einem Blick in den Himmel packte Garsende das ausgegrabene Unkraut in einen Weidenkorb, erhob sich und klopfte notdürftig die gröbsten Brocken Erde von ihrer fleckigen Schürze ab. Während sie sich bückte und den Korb aufnahm, sah sie zufrieden über die säuberlichen Furchen in der Erde.
»Mein Herz und meine Leber.«
Die Stimme fuhr wie ein Messer durch ihren Leib.
Garsende erstarrte.
Der Korb schien plötzlich mit Blei gefüllt zu sein. Ihr Herz schlug Kapriolen und flatterte in ihrem Hals. Sie spürte, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich. Ein einziger Windhauch jetzt, und ich sinke in meinen Rosmarin, dachte sie. Zugleich erfasste sie heftiger Zorn. Das Blut schoss zurück in ihre Wangen, und mit blitzenden Augen wirbelte sie herum.
»Hattet Ihr mir nicht gesagt, Ihr würdet mir fernbleiben, solange ich das wünsche?«, rief sie.
Sein Blick lag forschend auf ihr, und sie versuchte erst gar nicht, ihm auszuweichen.
Lothar von Kalborn war ein hochgewachsener Mann, noch eine Handbreit größer als der Burggraf, und seine sehnige Gestalt war ihr bereits so nah, dass sein Umhang ihren Ärmel streifte.
Heilige Jungfrau, wieso habe ich sein Kommen nicht bemerkt?, fuhr es Garsende durch den Kopf. Hastig trat sie einen Schritt zurück.
»Ich hatte auch nicht vor zu kommen«, sagte er. Das vertraute spöttische Lächeln nistete in seinen Mundwinkeln und spiegelte sich in seinen dunklen Augen. »Doch nachdem ich dich auf dem Marktplatz wiedergesehen hatte …«
»Ihr habt mich gesehen?«, entfuhr es Garsende.
Er zuckte mit den Schultern. »Du hast mich doch auch gesehen.«
»Ja … das schon … Aber ich wusste nicht …« Sie stockte. Dann riss sie sich zusammen. »Es tut nichts zur Sache. Ihr hättet nicht hierherkommen sollen.«
»Vielleicht nicht. Doch du magst es leugnen oder nicht, im Grunde deines Herzens hast du mich erwartet.«
In seinen Worten steckte so viel Wahrheit, dass ihr keine passende Erwiderung einfiel. Stumm starrte sie ihn an.
Eine braune Haarsträhne hing Lothar verwegen in die Stirn. Sein Gesicht war schmaler geworden, seit er zum letzten Mal vor ihrer Hütte gestanden hatte. Die Wangenknochen traten deutlich hervor, und das Kinn war noch kantiger, als sie es in Erinnerung hatte. Über dem breiten Mund mit den geschwungenen Lippen dominierte eine große Nase, gebogen wie der Schnabel eines Adlers. Er war kein schöner Mann, doch seine
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