Dead Beautiful - Unendliche Sehnsucht: Roman (German Edition)
sie tun sollten. Andere zogen zielstrebig in eine bestimmte Richtung ab und der Rest folgte denjenigen, die zu wissen schienen, was sie taten. Clementine warf mir einen Blick zu und glitt lächelnd aus der Tür, hinaus in den hellen Tag.
Ich war die Einzige, die sich nicht rührte. Ich tat gar nichts, bis alle den Turnsaal verlassen hatten. »Die Zeit läuft, Mademoiselle«, warnte mich Madame Goût.
Jetzt, wo hier endlich Stille herrschte, konnte ich nachdenken. Ich schritt zur Mitte der Turnhalle, wo ein Kreis auf dem Boden aufgemalt war. Obwohl ich nicht genau wusste, was ich da tat, trat ich in seine Mitte und schloss die Augen.
Mit Trippelschritten drehte ich mich im Kreis, bis ichspürte, wie sich die Luft bewegte, als wiche sie mir aus. Übrig blieb nur ein winziger Pfad, der sich kühl anfühlte, irgendwie frei von allem. Ich stellte mir vor, wie ich ihn entlangging und die Zahl meiner Schritte auf meiner Karte einzeichnete. Zwölf Schritte geradeaus, vier Schritte nach links, zehn Stufen treppauf. Elf Schritte nach rechts. Drei Stufen abwärts. Zwei Schritte nach links. Hier zeichnete ich ein
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ein. Und bevor mir überhaupt klar war, dass ich schrieb, hatte ich schon in großen, schiefen Buchstaben das Wort KATZE gekritzelt.
Verwundert starrte ich aufs Blatt. Ich hatte keine Ahnung, woher ich hätte wissen sollen, dass es eine Katze war, aber jetzt, wo ich es geschrieben sah, war ich mir sicher, dass es stimmte. Ich kritzelte »Nr. 1« daneben.
Ich wiederholte den Vorgang. Als diesmal die Luft von mir wich, schien mir der Pfad ein wenig schmaler. Ich folgte ihm und zählte die Schritte. Ich machte mein
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und notierte SCHAF, Nr. 2. Dann ging es weiter, auf immer schmaleren Luftpfaden. KRÄHE, Nr. 3. EBER, Nr. 4. EICHHÖRNCHEN, Nr. 5. OPOSSUM, Nr. 6. RATTE, Nr. 7.
Bei den letzten beiden schließlich kam ich ins Schwanken. Ihre Pfade waren so schmal, dass es sie kaum zu geben schien. FISCH, schrieb ich, ohne mir sicher zu sein, und strich es dann durch, um es durch KARPFEN, Nr. 8 zu ersetzen. Ich sah auf die Uhr: nur noch fünf Minuten. Aber so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte das letzte Tier nicht bestimmen. Als der Sekundenzeiger seine letzte Runde drehte, preschte Clementine in ihren weißen Tennisschuhen durch die Tür und gab ihre Liste ab. Wie konnte sie schon fertig sein? Ich kapitulierte und malte an den Ort, wo das letzte Tier lag, ein bloßes
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und die Ziffer 9.
Nach einer Reihe von Klausuren über die Geschichte der Wächter waren wir schließlich durch mit den Prüfungen. Den Rest des Tages verbrachte ich auf meinem Zimmer und hörte, wie die Mädchen auf dem Flur kicherten und sich über ihre Sommerferien unterhielten. Ein Teil von mir wollte hinausgehen und mitreden, aber was hätte ich schon sagen können, wenn sie mich nach meinem Sommer fragten? Dass ich ihn im Haus verbracht hatte, mit Ärzten und Therapeuten? Dass meine Nächte sich am Fenster abgespielt hatten, wo ich herumgegeistert war und mich gefragt hatte, wann ich von meinem untoten Freund hören würde?
Auf einmal flog die Badezimmertür auf und ein rundliches, rotwangiges Mädchen platzte in mein Zimmer. »Oh, ’tschuldigung, falsche Tür«, sagte sie und gaffte mich an. »He, bist du das Mädchen, das nicht sterben kann?«
Ich rappelte mich auf und funkelte sie an.
»Verzeihung«, sagte sie, verdrehte die Augen und schlüpfte zurück in Clementines Zimmer, wo ich sie leise reden hören konnte. Wahrscheinlich über mich.
Erst zum Essen wagte ich mich hinaus. Der Speisesaal hatte etwas von einer mittelalterlichen Küche, mit langen Holztischen und drei Köchen, die hinter einem Tresen standen und Fleisch in den Bratpfannen wendeten. Der ganze Raum war überfüllt und dampfig. Obwohl es reichlich leere Stühle gab, schien für mich kein Platz zu sein. Clementine und ihre Freundinnen tuschelten, als ich an ihnen vorbeiging. Über das Klappern der Teller hinweg konnte ich Bretts Lachen hören. Er setzte sich zu einer Gruppe von Jungen am Rand. Schließlich entdeckte ich die Mädchen aus meinem Gartenbaukurs, zusammen mit einpaar Leuten, die ich schon im Wohnheim gesehen hatte. Ich kämpfte mich zu ihnen durch.
»Sitzt hier schon wer?«, fragte ich.
April sah zu mir hoch. »Oh, Renée. Äh – nein«, sagte sie und rückte gerade so weit zur Seite, dass ich mich auf die Kante quetschen konnte.
»Danke«, murmelte ich.
Nach einer betretenen Schweigesekunde wurden die
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