Deadline 24
etwas, nie, außer dass Leute sterben. Sie wusste, dass sie etwas tun sollte, wenigstens versuchen sollte, das Funkgerät anzuwerfen und mit den Terlebens Kontakt aufzunehmen. Die warteten bestimmt noch immer auf Nachricht. Doch nicht mal dazu konnte sie sich aufraffen.
Ich bin wie Vigo, dachte sie verzweifelt, ich kann bloß noch dasitzen und vor mich hin starren.
Aber dann rissen Großvaters schwere Schritte sie aus ihrer Lethargie. Er war auf dem Weg ins Haus. Hastig sprang sie auf, huschte aus dem Zimmer und zur Hintertür hinaus. Ihm wollte sie jetzt auf keinen Fall begegnen, er hatte ihr den Geburtstag versaut. Sie eilte zum Sonnendach, schnappte sich einen Schweber und düste zum höchsten Punkt der Kuppel, wo sie verhielt und hinaus aufs Land schaute. Graubraun und verdorrt breitete es sich unter ihr aus, scheinbar endlos, gleichförmig bis zum Horizont, der sich im Hitzedunst verlor. Nichts war zu sehen, kein Mensch, kein Tier, keine andere Kuppel, kein tanzender Trugnebel, kein Helikopter. Bloß Staub, Ödnis und hin und wieder ein paar Felsbrocken. Undeutlich erkannte Sally die gedrungenen Steinpyramiden, die den Eingang der Tunnels zu ihrer Farm markierten. Dort hatten früher die Karawanenfahrzeuge geparkt, während die Händler durch die Tunnels auf die Farm kamen, um ihre Geschäfte abzuschließen. Das war lange her.
Sally drehte sich auf den Rücken, schloss die Augen. Die sirrenden Schweberflügel fächelten ihr Kühlung zu. Unter ihr piepsten geschäftig ein paar Vögel in den Bäumen, schlaue Kerlchen, die innerhalb der Kuppel nisteten. Draußen hätten sie keine Chance gehabt, draußen waberte der Himmel. Sonst war alles still – friedlich, hätte man glauben können, solange man die Augen zukniff und den wallenden Himmel ausschloss. Sally war auf einmal sehr müde. Vielleicht sollte ich ein Weilchen schlafen, dachte sie, Großvater zum Trotz, der stets betonte, wie gefährlich es sei, auf einem Schweber einzunicken. Doch plötzlich zerriss ein panisches, schrilles Pfeifen die Stille – Mutters Trillerpfeife, mit der sie mitteilte, dass bei ihr im Haus etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
Vor Schreck wäre Sally beinahe abgestürzt. Sie warf den Schweber herum, raste in die Tiefe, sprang von dem Brett und rannte ins Haus. Im Erdgeschoss war niemand, sie flog fast die Treppe hinauf. Oben stand die Tür zu Großvaters Zimmer halb auf, nur seine Beine waren zu sehen, die in den Flur hinausragten und Sally ganz grauenvoll an Vigo hinter den Zweigen erinnerten. Bitte, flüsterte sie, bitte nicht!
Sie stieß die Tür weiter auf, sah Großvater auf dem Boden liegen, sein Gesicht grau wie Asche, aber er lebte, Gott sei’s gedankt, er lebte, wenn auch nur schwach. Sein Atem ging schnell und stoßweise, er keuchte vor Schmerzen und hielt sich den linken Arm. Mutter kniete neben ihm und massierte ihm die Brust.
»Herz«, sagte sie, als sie Sallys Anwesenheit spürte. Großvater hatte einen Herzanfall und es war ernst. Wenn Mutter ihr Schweigen brach, musste es sehr ernst sein.
»Paul«, sagte sie. »Bett.«
»Klar!« Sally rannte los, schrie nach Paul, der ihnen helfen sollte, Großvater auf sein Bett zu hieven. Doch fast sofort drehte sie sich wieder um. Paul war nicht hier, obwohl Mutter ihre Trillerpfeife benutzt hatte.
»Bestimmt ist er in den Kavernen«, sagte sie. »Dort hört man die Pfeife nicht. Soll ich ihn suchen?«
Mutter schüttelte den Kopf, winkte Sally heran und zeigte ihr, wie man Großvaters Brust massieren musste. »Tee«, sagte sie, stand auf und ging nach unten.
»Stirb bloß nicht, hörst du?«, flehte Sally, als sie mit Großvater allein war. »Mutter macht dir einen Tee, ihre Tees helfen immer. Stirb nicht, bleib bei uns, wir brauchen dich!«
Großvater öffnete die Augen und sah sie an. »Paul«, stieß er hervor. Gütiger Himmel, er erkannte sie nicht mehr. »Ich bin Sally. Paul ist in den Kavernen. Bestimmt kommt er gleich.«
Großvater schüttelte krampfhaft den Kopf. »Paul«, beharrte er, versuchte sich zu bewegen, fuchtelte mit dem rechten Arm in Richtung des Tischs.
»Pscht!«, machte Sally. »Ganz ruhig. Du darfst dich nicht aufregen.«
Ein Zettel lag vor dem Tisch auf dem Boden. »Ist es das?«, fragte sie. »Willst du den Zettel haben?«
»Paul«, stöhnte Großvater.
Sally zog den Zettel zu sich heran und las ihn. Sie konnte lesen, wenn auch nicht besonders gut, aber für den Zettel reichte es. Er war von Paul, ein Abschiedsbrief:
Lieber
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