Deadline 24
dahin läge alle Verantwortung bei ihr, bei Sally allein. Mutter wäre bei der Farmarbeit keine Hilfe. Seit Beginn ihrer Blindheit hatte Angelina sich in Haus und Garten zurückgezogen, wohl weil sie glaubte, bei der Farmarbeit eher im Wege als hilfreich zu sein. Die Familie hatte diese Entscheidung stillschweigend akzeptiert und nie einen Grund gefunden, an ihrer Richtigkeit zu zweifeln. Im Haus und im Garten war Angelina unschlagbar, sie schaltete und waltete in beiden, als könnte sie sehen, wie jeder andere auch. Doch draußen, auf dem weitläufigen Gelände der Farm, den steinigen Wegen, holprigen Weiden, den Pflanzungen und Hainen war sie ohne Führung verloren. Nein, Sally war verantwortlich und sie war allein. Panik schlug über ihr zusammen wie eine Welle, sie schnappte nach Luft und rannte nach draußen, um wenigstens noch die wichtigsten Arbeiten für heute zu erledigen – Hühner füttern, Ziegen melken, Wasser hochpumpen, Schweber versorgen. Und immer wieder nach dem Helikopter Ausschau halten. Als es dunkel wurde, die Sterne aufgingen und der Mond über dem Zenit der Kuppel hing, stand Sally am Fenster und wartete. Sie verließ ihren Aussichtsplatz nur, um am Funkgerät ihr Glück zu versuchen, stets vergebens. Irgendwann, als der Mond den Himmel fast ganz durchquert hatte, gab sie endlich Mutters sanftem Druck nach und ging zu Bett. Ihr letzter wacher Gedanke galt dem Helikopter, ihre Träume ebenso. Sie träumte, sie stehe draußen auf dem höchsten Punkt der Kuppel und werfe eine Angel aus. Es war eine magische Angel, deren Leine durch den Himmel zischte und sich in den Röhren des Org verhakte. Wie einen riesigen, brummenden Himmelsfisch konnte Sally ihn zu sich heranziehen. Paul streckte eine Hand aus der seitlichen Tür, fuchtelte mit einer Schere, versuchte, die Leine zu zerschneiden, aber es gelang ihm nicht. Er reichte nicht heran.
Kapitel 7
Im Morgengrauen erwachte Sally. Ein leises Geräusch hatte sie geweckt, ein zartes Quietschen. Die Schere, dachte sie, Pauls Schere quietscht. Erst nach und nach klärten sich ihre traumverhangenen Gedanken. Draußen herrschte eine eigenartige Stille. Sally lauschte. Ihr war, als könne sie den Atem der verblassenden Nacht vernehmen.
Sie hatte ihr ganzes Leben auf der Farm verbracht, sie kannte alle Geräusche, auch die der Nacht. Sie kannte das Rascheln der Bäume im Wind, das Summen des Kuppeldrahts, das Seufzen des alten Hauses. Sie wusste, dass die Zikaden im Morgengrauen verstummten, während die Hühner in ihrem Verschlag leise tockend erwachten. Noch war es nicht so weit, noch war alles still, bis auf … ein Hauchen? Atmete jemand draußen unter ihrem Fenster? Stand dort jemand an der Hauswand und atmete leise mit geöffnetem Mund? Sie wagte kaum, selbst zu atmen, lauschte mit aller Konzentration durch das weit geöffnete Fenster. Ein trockener Zweig knackte, und dann, wie um alle Zweifel zu zerstreuen, ein Hüsteln, kurz nur, schnell unterdrückt. Jemand schlich auf der Farm herum. Es mussten mehrere Personen sein, einer stand unter ihrem Fenster, ein anderer huschte übers Gelände. Jetzt konnte sie auch das Quietschen einordnen, das sie geweckt hatte. Die Tür des Pumpenhauses war es gewesen, genau, die quietschte manchmal in den Angeln. Durch das Pumpenhaus gelangte man zu den Kavernen und Tunnels und natürlich auch umgekehrt durch die Tunnels auf die Farm. War der Helikopter zurückgekommen? Hatte die Crew ihn im Ödland geparkt und sich von Paul durch die Tunnels führen lassen?
Warum glaubte sie das nicht? Weil die da draußen so verstohlen herumschlichen? Das würden die Crew und Paul ebenso tun, versicherte sie sich, weil sie niemanden wecken wollten. Aber nicht auf diese Art, flüsterte ihre innere Stimme. Außerdem hättest du die Rotoren gehört. Vielleicht habe ich das ja, dachte Sally, ich habe von klopfenden Rotoren geträumt. Nein, entgegnete ihre innere Stimme, du hast von einem Brummen geträumt. Rotoren brummen nicht. Gott steh uns bei, dachte Sally, Motoren brummen, Fahrzeugmotoren.
So geräuschlos es irgend möglich war, rollte sie vom Bett und lugte durchs Fenster. Es war, als schaute sie auf eine Gespensterszene. Drei, nein, vier Männer näherten sich aus den Gemüsegärten. Sie trugen die langen Ledermäntel der Karawanenfahrer, beleuchteten mit trüben, batteriebetriebenen Lampen das unebene Gelände vor ihren Füßen. Immer mehr von ihnen tauchten auf, von den Giebelseiten, von der Scheune, vom Geräteschuppen her.
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