Dein Blick so kalt
sie die Flasche ab, während eine andere Lou, die auch in ihr hauste, sie eine Idiotin schimpfte und ungeduldig die Flasche an die Lippen setzen wollte. Lou rang die andere nieder. Erst nachsehen, ob es irgendwo eine Beschädigung gab. Vielleicht hatte er das Gift mit einer Spritze injiziert. Du hast ja eine kranke Fantasie, schalt die andere sie. Nein, nicht ich. Er!, konterte Lou. Also schraubte sie den Deckel wieder auf und hielt die Flasche prüfend gegen das Licht. Nirgendwo perlte ein Tropfen. Nirgendwo versiegelte ein Stück Tesa ein Loch. Doch am Boden war ein seltsamer kleiner Knubbel. So groß wie ein Stecknadelknopf. Was war das?
In Pas Werkzeugkiste gab es eine Heißklebepistole. Damit konnte man Klebstoff schmelzen und dann mit dem flüssigen Kleber alles Mögliche zusammenpappen. Wenn das Zeug wieder hart wurde, sah das genau so aus, wie dieser Knubbel. Lou kratzte daran, bis er abfiel. Ein kleines Loch wurde sichtbar. So klein, dass man es mit bloßem Auge kaum erkennen konnte.
Die Flasche glitt Lou aus der Hand und rollte über den Boden. Ein würgender Schmerz in ihre Kehle. Die staubtrocknen Augen brannten. Sie würde hier sterben. So oder so. Also konnte sie auch die Cola trinken. Es würde schneller gehen.
71
Die Hausmeisterin musterte ihn misstrauisch. »Wissen Sie, wo das ist?«, wiederholte Lysander seine Frage und hielt ihr das Handy mit dem Foto unter die Nase. »Bär hat meine Freundin entführt. Sie ist in diesem Keller. Er muss in einem der Häuser sein. Wo? Wissen Sie das?«
Umständlich zog sie eine Lesebrille hervor, setzte sie auf und studierte die Aufnahme auf dem Handydisplay. Am liebsten hätte Lysander sie geschüttelt. Doch er zwang sich zur Ruhe. »Hm? Das muss der alte Heizungskeller sein. Haus eins. Der ist seit einer Ewigkeit abgesperrt.«
»Haben Sie einen Schlüssel?«
»Ja. Schon…«
»Holen Sie ihn.« Gleichzeitig nahm er ihr das Handy ab, wählte Meos Nummer. »Lou ist im alten Heizungskeller von Haus eins.«
»Woher weißt du das?«
»Ist doch egal. Jetzt komm schon.«
»Wo bist du?«
»Bei der Hausmeisterin. Sie holt die Kellerschlüssel.«
»Wir sind sofort bei dir.« Meo legte auf. Elvira Pagel kehrte mit dem Bund zurück. Unzählige Schlüssel mit farbig markierten Schildchen baumelten daran.
Die Flasche Cola stand auf dem Boden vor Lou. Sie durfte nichts davon trinken. Hoffentlich hatte sie nicht schon…
Im Laufschritt kam Meo an, gefolgt von Mertens. »Wo ist dieser Heizungsraum?«
Sie folgten Elvira Pagel durchs Treppenhaus in den Keller, eilten an Waschküche, Trockenraum und Fahrradkeller vorbei, bis sie eine Tür erreichten, die den Zugang zu einem Kellertrakt verschloss. Die Hausmeisterin suchte nach dem passenden Schlüssel. Lysander erschienen Sekunden wie Stunden. Endlich fand sie ihn, steckte ihn ins Schloss. Doch er passte nicht, ließ sich nur halb hineinschieben. »Das gibt es doch nicht.« Mit einem Kopfschütteln zog sie ihn heraus, betrachtete das Schildchen. »Das ist der richtige Schlüssel.« Ratlos sah sie in die Runde.
»Bär muss das Schloss ausgewechselt haben«, sagte Meo.
»Wir brauchen einen Schlüsseldienst«, meinte Mertens.
72
Sie fühlte sich so elend und kraftlos. Sie würde in diesem Loch verrecken. So oder so. Entweder verdurstete sie oder sie trank das Gift. Ihr Körper lechzte nach Flüssigkeit. Es kostete sie alle Willenskraft, alle Konzentration, ihren ganzen Verstand, die andere in ihr daran zu hindern, nach der Flasche zu greifen.
Pa. Mam. Lou rollte sich auf der Matratze zusammen. Sie wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war, sie wusste nicht, ob die Polizei überhaupt nach ihr suchte. Vielleicht glaubten alle, sie sei einfach abgehauen. Sie wusste nicht, ob sie ihre Eltern je wiedersehen würde. Und Lysander. Seine dunklen Haare, die unter der Stickmütze hervorlugten und sich wie feiner Bast anfühlten, sein nachdenklicher Beoblick. Wie er sie angesehen hatte, damals, vor ihrem ersten Kuss. Es schien ihr eine Ewigkeit her zu sein, wie in einem anderen Leben. Lassen wir es auf uns zukommen. Nichts kam mehr auf sie zu. Bei dem Gedanken an Lysander zog sich jede Pore ihrer Haut schmerzhaft zusammen, als wäre sie in einen Eissturm geraten. Es tat so weh. Lysander. Sie würde ihn nie wiedersehen.
In ihren Nieren tobte seit Stunden ein ähnlich dumpfer Schmerz wie schon seit einer Ewigkeit in ihrem Kopf. Ihre Organe schrumpelten zusammen, sie konnte es beinahe fühlen, ihr Blut musste dick wie Sirup sein und
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