Den Tod vor Augen - Numbers 2
Dunkeln, ihre ganz knochig und verzweifelt. Sie klammern sich an meine, als ob sie nie wieder loslassen wollten. Es gelingt uns, aufzustehen.
»Lass uns hier verschwinden«, sage ich.
»Okay, Schatz, wo ist die Tür?«
»Wir brauchen keine Tür, Val. Wir gehen einfach.«
»Wie meinst du das?«
»Die Vorderseite des Hauses ist zusammengebrochen, Val.«
»Sei nicht albern. Wir hatten einen kleinen Erdstoß, sonst nichts. Wir sind noch da. Das Haus ist noch da.«
»Wir schon, aber die Hälfte vom Haus nicht mehr. Geh weiter.«
Arm in Arm bahnen wir uns den Weg durch den Schutt. Über uns steht der Halbmond und spendet genug Licht, um uns im Dunkel Konturen zu zeigen, doch man erkennt keine Einzelheiten. Jemand leuchtet draußen auf der Straße mit einer Taschenlampe umher und für ein paar Sekunden richtet er sie auf uns. Jetzt erkennen wir es: Wo einst die Vorderseite des Hauses war, liegt jetzt ein Schuttberg im Vorgarten. Wir müssen hinauf- und drüberwegkriechen, um zur Straße zu kommen, einen anderen Weg gibt es nicht.
Der Lichtstrahl entfernt sich von uns und wir tasten uns wieder blind vorwärts.
Wir schwanken über die letzten Trümmer, die einmal ein Haus waren. Ein Stück Gartenmauer steht noch, da setzen wir uns drauf und schauen zurück auf das Trümmerfeld, aus dem wir gerade gekommen sind.
Die Luft ist voll Staub, schwer durchsetzt, doch als das Mondlicht durchschimmert, erkennen wir, was geschehen ist. Die Vorderseite der gesamten Häuserreihe ist weggebrochen. Es ist wie bei einem Puppenhaus, wo man von vorn in die Zimmer schauen kann.
»Ein Glück, dass wir da rausgekommen sind«, sage ich.
»Glück«, wiederholt Val. »Glück.«
Irgendwas bewegt sich neben mir auf dem Boden. Ich sehe die Bewegung aus dem Augenwinkel und schreie.
»Was ist das?«
Ich erwarte, eine Hand oder einen Arm oder so was zu sehen, aber es ist nichts Menschliches. Es ist ein kleines schwarzes Etwas, das sich windet und schlängelt. Dann macht es ein Geräusch, irgendwas zwischen Knurren und Winseln. Ich stehe von der Mauer auf und gehe neben dem Etwas in die Hocke. Ich strecke die Hand aus und berühre den Staub, doch darunter ist weiches Fell und Wärme. Das Etwas reagiert, hebt den Kopf und im Mondlicht erkenne ich eine leere Höhle, wo einmal ein Auge war.
»Es ist ein Hund, Val.«
»Ein Hund?«, sagt Val. »Normas Hund?«
Ich fahre ihm mit der Hand über den Rücken. Er hechelt stark. Irgendwas stimmt nicht. Sein Hinterteil liegt platt am Boden, die Beine zur Seite gespreizt.
»Mach schon«, sage ich. »Komm her.« Ich bewege mich ein bisschen von ihm weg und lasse die Finger knacken. Er schiebt sich auf mich zu, benutzt dazu die Vorderpfoten. Er sieht aus wie ein Soldat, der auf dem Bauch robbt. »Seine Hinterbeine sind nicht in Ordnung. Sie funktionieren nicht.«
Val kniet sich neben mich.
»Lass uns mal schauen.« Sie fährt mit der Hand über den Hund.
»Der Rücken ist gebrochen«, erklärt sie. »Sag mal lieber Norma Bescheid. Wo ist Norma?«
Wir schauen nach nebenan. Das Haus ist nur noch ein Gerippe. Anders als bei Val ist dort die Decke eingestürzt. Alles ist weg.
»O Scheiße«, sagt sie. Ich kann ihr Gesicht nicht sehen, schon gar nicht den Ausdruck darin, doch ihre Stimme sagt alles. »Arme Norma. Adam hat es uns immer gesagt. Er hat gesagt, dass es passieren würde. Ich habe ihm geglaubt, aber ich hätte nie gedacht, dass es so kommen würde … Wir müssen ihn töten. Wir können ihn nicht so liegen lassen. Sarah?«
Sie will, dass ich ihn töte. Meine Nackenhaare stellen sich auf.
»Ich kann das nicht, Val. Ich kann es einfach nicht.« Sie beugt sich vor und ich höre sie in dem Schutt herumwühlen. Plötzlich hat sie etwas in der Hand.
»Okay. Okay. Braver Hund. Braves Jungchen.«
Sie bewegt sich in dem schwachen Licht, hebt die Hand hoch über den Kopf. Dann schlägt sie mit voller Wucht zu. Es gibt einen dumpfen Aufschlag, sonst nichts, nur einen Schlag. Sie sagt nichts, sondern schiebt die Hände unter den Körper, hebt ihn empor und stolpert zurück Richtung Häuser.
»Was machst du?«
»Ich beerdige ihn da, wo er sein sollte. Bei Norma.«
Ich krieche ihr hinterher und gemeinsam häufen wir Geröll und Steine über ihn. Dann gehen wir wieder zu der Gartenmauer und setzen uns hin.
»Danke«, sagt Val. Sie findet meine Hand und legt sie in ihre. Eine Weile sitzen wir schweigend da. Ich bin wie betäubt. Ich begreife nicht, was passiert ist. Zuerst war es still, doch jetzt
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