Denn dein ist die Schuld
Meinung der Dinuccios war dieser Typ genau zeitgleich mit dem Verschwinden der Kinder plötzlich zu so viel Geld gekommen, als hätte er im Lotto gewonnen.
Der Aussage war die Adresse der beiden Jungen beigefügt: eine Werkstatt in der Via Genova in Pieve Emanuele … Diese Adresse legte im Kopf des Ispettore einen Schalter um. Pieve Emanuele …
Für einen Ermittler gehört es zur unumgänglichen täglichen Arbeit, sich an Daten, Namen, Orte und Gesichter zu erinnern. Es war nicht wichtig, dass er sich sofort erinnerte, wer wer war. Es genügte, dass in seiner Erinnerung irgendein Detail auftauchte: ein Name, der eines Ortes, der einen Anhaltspunkt bieten und an die Oberfläche kommen konnte, durch Gedankenketten, Assoziationen, die wesentlichen Punkte, um sich dann auch an das Übrige zu erinnern.
Pieve Emanuele … Via Genova …
Der Ispettore suchte fieberhaft in der Akte nach gelb und rot markierten Stellen, über die er gestolpert war und die er sich immer wieder anschauen wollte. Da war ja die Adresse: die Werkstatt, die dem Lebensgefährten der Mutter beider Kinder das Alibi gegeben hatte.
»Na gut, Rozzano ist nicht New York«, bemerkte Marino. »Aber wenn die gleiche Adresse zweimal aus verschiedenen Gründen in der Akte erscheint … Leo’, jetzt haben wir etwas, womit wir arbeiten können. Da ist es … Ob wir diesem General jetzt wieder einen Besuch abstatten sollen? …«
»Tenente Colonnello, Vince. Und pass auf, ich glaube nicht, dass Glauco sehr viel Spaß versteht.«
»Das habe ich gemerkt. Sehen wir mal nach, ob die Carabinieri die beiden Brüder schon befragt haben. Sonst suchen wir sie eben auf.«
»Eigentlich hätte ich noch was anderes vor. Kannst du nicht Pogliani oder Ragazzoni mitnehmen? Zwei Typen, die der Pfarrer als ›schlimme Finger‹ bezeichnet hat, sollten doch lieber von einem Mann verhört werden.«
In Wahrheit schmerzten Ispettrice Leoni allein schon bei dem Gedanken, noch einmal ins Auto zu steigen und die Stadt zu durchfahren, alle Gelenke. Marino fuhr ruckartig, er fluchte, überholte rechts und überfuhr dabei beinahe Fußgänger.
»Ich könnte natürlich, aber ich möchte nicht. Ich brauche dich.«
»Warum?«
»Weil du einen unglaublichen Blick für Details hast, und außerdem benötige ich deine Intuition. Während ich sie befrage, sollst du sie die ganze Zeit beobachten …«
»Körpersprache und der übliche Quatsch?«
»Genau das und dann …«
»Was?«
»Ein gemeinsames Abendessen. Ich bezahle.«
»Meinen Glückwunsch, Vince, es ist dir wirklich mit einem einzigen Satz gelungen, dass ich mich ganz klein fühle und mich gleichzeitig sexuell zu diskriminieren.«
Marino starrte sie mit offenem Mund an.
KAPITEL 91
Dienstag, 13. März, 23:00 Uhr
» Ciao , Leonardo.«
Diese Stimme, nicht viel mehr als ein Flüstern, schien direkt in seine Gedanken zu dringen. Leonardo, der eingeschlafen war, riss unvermittelt die Augen auf.
Das Zimmer lag im Dunkeln, die Tür zum hell erleuchteten Flur war nun geschlossen. Nur der Mond, dessen Licht durch die Schlitze des halb geschlossenen Rollladens fiel, beleuchtete den Raum schwach.
Die Gestalt, die sich über das Bett beugte, blieb einige Sekunden regungslos stehen.
»Wie fühlst du dich? Ich bin froh, dass man dich nach allem, was geschehen ist, retten konnte. Schsch! Sag nichts. Ich rede!«
Der junge Mann versuchte sich abzuwenden, um diesem Mund zu entkommen, der ihm direkt ins Gesicht hauchte, doch eine kräftige Hand hielt ihn an der Schulter und drückte ihn in seine Kissen.
Das Bett neben ihm war leer. Das Schwesternzimmer befand sich am anderen Ende des Korridors, am Eingang zur Abteilung.
Medikamentenausgabe war um acht Uhr gewesen. Eine halbe Stunde später hatte die Schwesternhelferin den Kamillentee gebracht, eine Stunde davor hatte der Schichtwechsel beim Pflegepersonal stattgefunden.
Leonardo war allein.
Die Klingel!
Der Druckknopf lag unter dem Kissen. Leonardo bewegte seine Hand unauffällig in diese Richtung, mit Erfolg, denn seine Bewegungen wurden inzwischen immer koordinierter. Er drückte fest darauf, aber nichts geschah. Der Mann grinste und zeigte ihm den Stecker, den er aus der Dose gezogen hatte.
»Nur keine Angst. Ich bin bloß hier, weil ich etwas plaudern will«, flüsterte er ihm ins Ohr. »Du bist in Sicherheit. Zumindest im Augenblick …«
Eigentlich hatte Leonardo gar keine Angst.
Er war gar nicht wach genug, um zu begreifen, was vor sich ging, nur leicht beunruhigt,
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