Denn vergeben wird dir nie
widerwillig erhob ich mich
ebenfalls. »Sie waren sehr freundlich«, begann ich, aber er
unterbrach mich.
»Mir fällt da gerade noch etwas ein. Westerfield hat es
offensichtlich genossen, im Rampenlicht zu stehen, und er
wollte auf diese Erfolgsmomente nicht mehr verzichten. In
dem Stück hatte er eine dunkelblonde Perücke getragen,
und damit wir nicht vergaßen, wie gut er gewesen war, ist
er auch später manchmal damit herumgelaufen. Dann legte
er sich manche Redewendungen der Figur zu; ich erinnere
mich, dass er sogar mit dem Namen der Figur unter
schrieben hat, wenn er in der Klasse Zettel in Umlauf
gab.«
Ich musste daran denken, wie Rob Westerfield gestern
Abend im Gasthaus der Bedienung den Eindruck
vermittelt hatte, dass er mit mir flirten wolle. »Er spielt
auch heute noch allen etwas vor«, sagte ich.
Ich aß irgendetwas auf die Schnelle und saß um halb vier
wieder im Auto. Es schneite immer noch, und der
schleppende Verkehr ließ erwarten, dass die Rückfahrt
nach Oldham sich noch viel länger hinziehen würde als
die Hinfahrt. Ich hatte mein Handy griffbereit neben mich
gelegt, um den Anruf des Mannes, der mit Westerfield im
Gefängnis gesessen hatte, nicht zu verpassen.
Er hatte darauf bestanden, sein Geld bis Freitag zu
bekommen. Inzwischen hatte ich das Gefühl, dass seine
Information sehr wichtig sein könnte, und ich hoffte, dass
er seine Meinung nicht geändert hatte.
Es war schon halb zwölf Uhr nachts, als ich endlich das
Gasthaus erreichte. Kaum war ich in meinem Zimmer,
klingelte das Handy. Es war der Anruf, auf den ich
gewartet hatte, aber die Stimme klang diesmal unruhig.
»Hören Sie, ich glaube, ich werde verfolgt. Gut möglich,
dass ich hier nicht mehr lebend rauskomme.«
»Wo sind Sie?«
»Hören Sie zu. Kann ich mich darauf verlassen, dass Sie
mir das Geld später geben, wenn ich Ihnen den Namen
nenne?«
»Ja, darauf können Sie sich verlassen.«
»Westerfield denkt bestimmt, dass ich zu einer Gefahr
für ihn werden könnte. Er hat von Geburt an immer im
Geld geschwommen. Ich hab nie etwas gehabt. Falls ich
hier rauskomme und Sie mir das Geld geben, dann hab ich
wenigstens etwas. Wenn ich es nicht schaffe, dann werden
Sie vielleicht dafür sorgen, dass er wegen Mordes
verknackt wird.«
Jetzt war ich überzeugt, dass er es ehrlich meinte und
tatsächlich etwas wusste. »Ich schwöre Ihnen, dass Sie Ihr
Geld bekommen werden. Und ich schwöre Ihnen, dass ich
Westerfield drankriegen werde.«
»Westerfield hat Folgendes zu mir gesagt: ›Ich hab Phil
totgeschlagen, und das war ein gutes Gefühl.‹ Haben Sie
das? Phil das ist der Name.«
Er hatte aufgelegt.
31
ROB WESTERFIELD war neunzehn Jahre alt, als er
Andrea ermordete. Innerhalb von acht Monaten war er
verhaftet, angeklagt, verurteilt und ins Gefängnis
geschickt worden. Obwohl er sich bis zu seiner Verur
teilung gegen Kaution auf freiem Fuß befunden hatte,
konnte ich mir nicht vorstellen, dass er es in diesen acht
Monaten gewagt haben könnte, noch einen weiteren
Menschen umzubringen.
Das bedeutete, dass der frühere Mord zweiundzwanzig
bis siebenundzwanzig Jahre zurückliegen musste. Ich
musste also diese fünf bis sechs Jahre seines Lebens unter
die Lupe nehmen und nach einer Verbindung zwischen
ihm und einem toten Mann suchen, dessen Vorname Phil
war.
Es war schwer, sich vorzustellen, dass Rob mit dreizehn
oder vierzehn einen Mord begangen haben könnte. Oder
vielleicht doch? Immerhin war er erst vierzehn gewesen,
als er Christopher Cassidy hinterrücks überfallen hatte.
Ich ging die betreffenden Jahre im Kopf durch. Zuerst
war er eineinhalb Jahre in Arbinger in Massachusetts
gewesen, dann ein halbes Jahr auf der Bath Public School
in England, zwei Jahre auf der Carrington Academy in
Maine und etwa ein Semester in Willow, einem
unauffälligen College in der Nähe von Buffalo. Die
Westerfields besaßen ein Haus in Vail und ein weiteres in
Palm Beach. Auch dort musste sich Rob aufgehalten
haben. Außerdem war er vermutlich bei Klassenfahrten im
Ausland gewesen.
Das ergab eine ganze Menge Orte, die ich bei der Suche
abdecken musste. Mir war klar, dass ich Hilfe benötigte.
Marcus Longo war fünfundzwanzig Jahre lang Detective
im Büro des Bezirksstaatsanwalts von Westchester County
gewesen. Wenn ich jemandem zutraute, den Mord an
einem Mann aufzuspüren, von dem nur der Vorname
bekannt war, dann ihm.
Zum Glück erreichte ich ihn und nicht seinen
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