Der 21. Juli
heute Nacht nur ein paar Straßen entfernt von ihm.
Er stieg um am Kottbusser Tor und in der Warschauer Straße. Wenn er Polizisten sah, drehte er sich weg. Im Bahnhof Neulichtenberg stieg er aus. Er ging die Leopoldstraße entlang, bog rechts ab in die Emanuelstraße, die nächste links war die Lückstraße. Den Stadtplan hatte er sich im Flughafengebäude eingeprägt. Die Lückstraße mündete in die Rummelsburger Straße. Als er in die Einmündung kam, sah er links ein Baufahrzeug stehen. Ein Zelt diente offenbar dazu, einen geöffneten Kanaldeckel gegen Regen zu schützen. Werdin blickte nach oben, keine Wolke am blauen Himmel. Er grinste. Die Deutschen waren immer noch gründlich, manchmal lachhaft gründlich.
***
Moskau lag unter blauschwarzen Regenwolken. Grujewitsch fühlte sich schlecht, der Flug war unruhig gewesen. Berijas Wagen wartete schon, der Chauffeur riss die Türen auf, als sie sich näherten. Berija machte der Flug offenbar nichts aus. Mit energischen Schritten stapfte er durch die Pfützen. Auf der rasenden Fahrt zum Kreml sagte er nicht viel. Nur: »Sie warten morgen Nachmittag ab zwei Uhr vor der Tür.«
Die Präsidiumssitzung würde Stunden dauern, und die durfte Grujewitsch auf einem Stuhl vor dem Sitzungssaal verschwenden. So waren sie, die hohen Herren. Grujewitsch hatte länger als eine Woche nicht an seinem Schreibtisch gesessen, er ahnte, wie viel Arbeit dort auf ihn wartete. Aber was kratzte es Berija? Für ihn war Grujewitsch nun erster Adjutant, über einen Nachfolger als Leiter der Spionageabwehr hatte sich Berija bisher keine Gedanken gemacht. Aber er würde Grujewitsch verantwortlich machen, wenn bei der Abwehr etwas schief lief. Grujewitsch beruhigte sich, bisher war es immer gut gegangen. Auch diesmal würde es klappen. Mehr interessierte ihn, wie es Anna ging. Er würde sie heute Abend überraschen.
Berija hatte es eilig. »Seien Sie morgen pünktlich, Boris Michailowitsch«, sagte er und verschwand. Es klang bedrohlich. Berija spürte, seine große Chance kam. Da musste alles klappen. Wehe, irgendeiner seiner Helfer versagte, war nicht zur Stelle, wenn der Meister rief.
Grujewitsch wies den Fahrer an, vor dem Haus zu halten, in dem Anna wohnte. Es war fast Mitternacht. Er stieg die Treppen hoch, an seinem Schlüsselbund fand er den Schlüssel zu Annas Wohnung. Leise, um sie nicht zu erschrecken, öffnete er die Tür. Er legte den Mantel über Annas einzigen Sessel, den Koffer stellte er neben die Wohnungstür. Vorsichtig öffnete er die Tür zu dem Zimmer, in dem Anna arbeitete und schlief. Weißes Licht schien durch den Schlitz zwischen den beiden Vorhanghälften. Es stammte von einer Laterne im Hof. Er erkannte Annas schwarze Haare, sie schlief auf dem Bauch. Neben Anna entdeckte er eine Wölbung unter der Decke. Grujewitsch erstarrte. Dann ergriff ihn Wut. Er knipste das Licht an und riss die Decke vom Bett. Anna fuhr hoch. »Was machst du?«, schrie sie. Ihr Körper verdeckte den Blick aufs Bett. Er schob sie zur Seite. Auf dem Kopfkissen neben ihr lag ein großer brauner Teddybär. Anna begann zu weinen. »Du siehst schrecklich aus, Boris. Geh weg, du machst mir Angst.«
Scham verdrängte die Wut. Er hatte sich aufgeführt wie ein Irrer. Er, bekam Angst. »Tut mir Leid«, stammelte er, »ich dachte ...«
»Verschwinde«, sagte sie. »Ich will dich so nicht sehen, nie wieder. Du bist furchtbar. Wo warst du überhaupt? Seit mehr als einer Woche lässt du dich nicht blicken. Kein Wort habe ich gehört von dir. Und jetzt kommst du zurück und machst den Affen. Du bist verrückt.«
Sie wollte keine Antwort auf ihre Fragen. Sie war wütend. Grujewitsch wusste inzwischen, es war besser zu gehen und morgen oder übermorgen wiederzukommen. Dann hatte sie sich beruhigt und würde ihm verzeihen. Hoffentlich.
Er packte Mantel und Koffer. Auf der Treppe nach unten fluchte er, dass er den Fahrer weggeschickt hatte. Jetzt musste er mit der U-Bahn fahren.
Als er zu Hause ankam, war er erschöpft. Das Wohnzimmer roch nach Zigarettenrauch, süßem Parfüm und Alkohol. Er riss das Fenster auf. Die Wohnung widerte ihn an. Gawrina hatte sie eingerichtet, und die meiste Zeit wohnte sie allein hier. Er ekelte sich vor Gawrina. Als er ins Schlafzimmer kam, lag sie mit offenem Mund auf dem Rücken. Sie schnarchte. Er könnte ihr den Hals zudrücken, ohne dass sie aufwachte. Kurz zuckte es ihm in den Händen. Warum verließ er sie nicht gleich morgen? Warum ließ er sich nicht
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