Der 21. Juli
Michael, ist zuverlässig?«
»Michael ist einer unserer Besten, so gut wie Sorge.«
Berija verzog das Gesicht zu einer Fratze. Er mochte nicht an Sorge erinnert werden. Der große Richard Sorge hatte den Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion vorhergesagt, aber Stalin war überzeugt, es handle sich um eine Provokation. Sorge, dieser versoffene Idiot, den sein Leichtsinn in die Todeszelle gebracht hat, er hätte Beweise liefern müssen statt Gerüchte. Der Genosse Stalin war damals zugeschüttet worden mit Fantastereien.
»Ich hoffe, Ihr Michael ist besser als Sorge«, sagte Berija.
»Ja, Genosse Berija, wahrscheinlich ist er besser. Ich habe nur nicht gewagt ...«
Berija schnitt Grujewitsch mit einer kurzen Handbewegung das Wort ab. »Was haben wir davon, wenn Hitler getötet wird?«, fragte er.
»Außer dass wir persönlich befriedigt sind, dass einer unserer größten Feinde nicht mehr lebt.«
»Ich weiß es nicht, Genosse Berija«, erwiderte Grujewitsch nach einer kurzen Pause.
Berija lächelte, sein Mund war ein Strich, die Mundwinkel waren leicht nach oben gezogen. »Stehen Sie doch bequem«, sagte Berija. Seine Stimme säuselte fast.
Grujewitsch lockerte seine Haltung.
»Genosse Grujewitsch, wie ist Ihr Vatername?«
»Michailowitsch, Genosse Berija.«
»Boris Michailowitsch, wir sind hier unter uns. Nichts, was hier gesprochen wird, dringt nach außen. Ich bitte Sie, ja, ich bitte Sie, sagen Sie mir Ihre Meinung. Sie sind ein tapferer und kluger Mann, ich kenne Ihre Personalakte. Sie werden es noch weit bringen. Wer nach oben will, muss manchmal etwas riskieren. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viel Schaden der Sowjetunion entstanden ist, weil Funktionäre und Offiziere im entscheidenden Augenblick das Maul nicht aufgekriegt haben. Wenn Sie offen mit mir sprechen, riskieren Sie nichts. Ich werde es für mich behalten. Sind Sie einverstanden, Boris Michailowitsch?« Berijas Stimme war seltsam eindringlich geworden.
»Ja, Genosse Berija.«
»Dient es unserem Land, wenn Hitler getötet wird? Sagen Sie offen Ihre Meinung.«
»Jeder Sowjetbürger würde jubeln«, sagte Grujewitsch.
»Nur, wie lange?«, fragte Berija.
»Ich fürchte, kurz«, erwiderte Grujewitsch.
»Was passiert, wenn die Verschwörer in Berlin die Macht übernehmen?«
»Es ist fraglich, ob ihnen das so einfach gelingt. Auch wenn wir in unserer Propaganda zu Recht das Gegenteil verkünden, die Deutschen in ihrer großen Mehrheit stehen hinter Hitler. Was tun sie, wenn er umgebracht worden ist? Wird sich nicht ihr ganzer Hass gegen die Mörder richten?«
Berija nickte bedächtig. Er war ungeheuer konzentriert. »Das sind kluge Argumente, Boris Michailowitsch, kluge Argumente. Ich sehe, Sie sind der richtige Mann am richtigen Platz.« Berija schaute Grujewitsch nachdenklich in die Augen. »Fahren Sie fort.«
»Sie werden wie im letzten Krieg von einer Dolchstoßlegende sprechen: Mitten im Krieg sei eine kleine Clique von Verschwörern der kämpfenden Front in den Rücken gefallen. Verrat!«
»Niemand wird stärker gehasst als der Verräter«, warf Berija ein.
»Niemand«, bestätigte Grujewitsch.
»Und noch etwas anderes. Boris Michailowitsch, Sie sind ein guter Kommunist, haben sogar die Parteischule mit Auszeichnung abgeschlossen. Sie wissen, unser Bündnis mit den kapitalistischen Staaten wird nicht ewig dauern. Sie wollen uns seit 1917 an den Kragen. Und wir machen kein Hehl daraus, wir sind Revolutionäre. Gut, wir haben die Internationale aufgelöst, aber das hat keine große Bedeutung. Denn die Kommunisten aller Länder sind durch ein festes Band verbunden, durch die Lehre von Marx, Engels, Lenin und Stalin.«
»Wenn Hitler tot ist, könnte die neue Regierung einen Separatfrieden mit den Westmächten abschließen«, sagte Grujewitsch. Er hätte sich auf die Zunge beißen können, es war ihm herausgeplatzt, es lag auf der Hand. Aber er hatte Angst, Berija könnte ihn für vorlaut halten. Die Lage einzuschätzen war Sache der Führung, nur sie überblickte, was los war in der Welt.
Berija verzog seinen Mund wieder zu einem Strich, dessen beide Enden nach oben zeigten. »Recht so, Boris Michailowitsch, recht so. Das ist der erste Punkt, den wir Kommunisten im Auge behalten müssen. Aus unseren Partnern können Feinde werden. Wenn wir nicht klug taktieren, fallen sie am Ende alle über uns her: die Deutschen, die Amerikaner, die Engländer und vielleicht sogar die elenden Japaner. Dann haben wir den
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