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Der Außenseiter

Der Außenseiter

Titel: Der Außenseiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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können Sie doch gar nicht wissen.«
    »Nein«, stimmte George zu, »aber abschrecken lasse ich mich davon bestimmt nicht. Im Übrigen habe ich ein Pfefferspray in meiner Handtasche.
    Das ist hier zwar strengstens verboten – ich habe es in Amerika gekauft –, aber lieber gehe ich ins Gefängnis, weil ich einen Übeltäter unschädlich gemacht habe, als dass ich auf dem Friedhof lande, weil der Kerl ein Messer dabeihatte.« Sie machte eine Pause, um ihre Worte wirken zu lassen.
    »Mich schüchtert so leicht keiner ein, Jonathan. Ich bin vielleicht nicht gerade die Fitnesskönigin, aber mein Vater hat mir beigebracht, mich zu wehren, und die Lektion hat gesessen. Ich nehme mir Roy allein vor, wenn es sein muss, aber Ihnen wird das keine Hilfe sein.«
    Er lächelte trübe. »Es wird mir auf jeden Fall mehr helfen, als mir den Kiefer brechen zu lassen.«
    »Ist das schon mal passiert?«
    »Einmal, ja.«
    »Waren es Schläger?«
    »Einer.«
    »Haben Sie ihn angezeigt?«
    »Nein. Ich habe allen erzählt, ich wäre mit dem Rad gestürzt.«
    »Warum?«
    380

    »Weil er gesagt hat, er würde mir den Kiefer gleich noch mal brechen, wenn ich nicht den Mund hielte.« Sein Lächeln wurde verzerrt. »Ich hatte nicht so einen Vater wie Sie, George. Sich wehren war das Letzte, was man tat, wenn man mit meinem Vater zu tun hatte – es sei denn, man wollte mehr davon.«
    Es war sinnlos, ihm sagen zu wollen, dass es sich hier nur um eine Variation zu einem Thema handelte, das sich in jeder einzelnen Fallstudie über körperliche Misshandlung wiederholte, die George je gelesen hatte. Eine Familie mit niedri-gem Einkommen, die sich mit Mühe über Wasser hielt. Geheimhaltung unter Androhung von Vergel-tungsmaßnahmen, sollte der Missbrauch aufgedeckt werden. Ein Kind, das sich in der Schultoilette versteckte, weil es sich fürchtete, nach Hause zu gehen. Ein wütender Vater, dessen aggressive Neigungen durch Alkohol verstärkt wurden. Eine verachtete Mutter, die, um nicht selbst geschlagen zu werden, zusah, wie ihr Sohn geschlagen wurde. Eine gestörte Eltern-Kind-Beziehung, die zusätzlich belastet wurde durch einen Großvater, der ständig Aufmerksamkeit forderte. Ein magerer, rasch in die Höhe schießender Halbwüchsiger in schlecht sitzender Kleidung, der von gewalttätigen Schulkameraden aufs Korn genommen wurde, weil er seine Ängstlichkeit zu offen zeigte. Erfundene 381

    Geschichten, weil Lügen weniger schmerzhaft waren als die Wahrheit. Unterdrückte Gefühle, mangelnde soziale Kompetenz, Angst vor Nähe, Angst vor Kritik, Versagensangst …
    »Andrew hat mir erzählt, dass Sie bis Weihnachten eine feste Freundin hatten«, sagte George. »Was ist aus ihr geworden?«
    Du bist so ein Feigling, Jon … es ist richtig peinlich.
    Das war keine Geschichte, die Jonathan erzählen wollte, und er hätte es auch nicht getan, wenn George sich nicht in ein zermürbendes Schweigen zurückgezogen hätte, das immer drängender wurde, je länger es anhielt. Er begriff, dass sie über weit mehr Entschlossenheit verfügte als er, und er fragte sich, ob sie und Andrew sich miteinander verschworen hatten, um ihn dazu zu bringen, über Emma zu sprechen.
    »War das eine Lüge, als Sie sagten, Sie wollten mit Roy reden?«, fragte er aufgebracht, als wäre George in seine Gedankengänge eingeweiht.
    Und vielleicht war sie es ja, denn sie sprach seine unausgesprochene Frage direkt an. »Ist es wirklich so schwer, mir von ihr zu erzählen?«
    »Es gibt nichts zu erzählen«, entgegnete er schroff.
    »Es hat nicht geklappt, also haben wir uns getrennt.
    Das passiert jeden Tag.«
    Wieder zog das Schweigen sich in die Länge. Es 382

    zerrte an Jonathans Nerven. Unzählige Autos fuhren vorüber, während George in aller Ruhe da-saß und abwartete. Er hätte sie gern der Neugier geziehen und deswegen verachtet, aber das ging nicht. Eine neugierige Person hätte ungeduldig auf eine Antwort gedrängt. Er hätte ihr gern wütend Manipulation vorgeworfen, aber das ging auch nicht. Denn als er die Geschichte schließlich erzählte, tat er es aus freien Stücken.
    383

    15
    Kaufhaus Dingles, Bournemouth
    Mittwoch, 23. April 2003, 16 Uhr 30
    Billy Burton sah noch einmal auf seine Uhr, dann warf er den Zigarettenstummel zu Boden und trat ihn aus. Er war zu früh gekommen und stand seit einer Dreiviertelstunde in nächster Nähe der Kaufhaustür, Louise hatte er bis jetzt nicht gesich-tet. Er war enttäuscht, aber nicht überrascht. Sie hatte ihn schon früher,

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