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Der Beschütze

Der Beschütze

Titel: Der Beschütze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Belinda Bauer
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hochgerutscht, rosa Schlüpfer, blau-weiße Haut.
    Er wusste es. Er wusste es.
    Jonas schlidderte die Böschung hinunter, fiel halb hin und spürte den gefrorenen Matsch an einer Gesäßhälfte. Die Stiefel, die er angezogen hatte, um warm zu bleiben, brachen
durch die zarte Eisschicht, die sich am Rand des Baches gebildet hatte, und füllten sich mit Wasser, als er den halben Meter bis zu der Leiche hinüberplatschte und sie umdrehte.
    »Mrs. Marsh! Yvonne!«
    Er fiel im eisigen Wasser auf die Knie und vergewisserte sich, dass ihre Mundhöhle frei war, dann begann er, die Frau zu beatmen, von der er wusste, dass sie bereits tot war.
    Scheiße!
    Er zerrte sie zum Ufer. Die Böschung würde er sie nicht hinaufbekommen  – nicht allein  –, aber er brauchte eine feste Unterlage. Unbeholfen hielt er sie im Gleichgewicht und presste rhythmisch auf ihren Brustkorb, dann beatmete er sie von Neuem.
    »Mrs. Marsh!«
    Er schlug ihr hart ins Gesicht, dann beatmete er wieder, presste ihren Brustkorb zusammen, beatmete abermals … spürte, wie alles auf der Welt schiefging.
    Die drei Jungen von der Rampe standen oben an der Böschung, mit blassen Gesichtern und großen Augen.
    »Ruft den Notarzt!«, brüllte er.
    Der Tithecott-Junge klappte hastig sein Handy auf und sagte: »Kein Netz.«
    »Lauf zu den Häusern!«, schrie Jonas, ehe er abermals Luft in Yvonne Marshs schwammige Lunge presste.
    Der Junge hetzte davon. Ohne ein Wort rutschte Dougie Trewell die Schlammböschung hinunter in den Bach und half, Yvonne Marshs Oberkörper auf dem Ufer zu halten, während Jonas sie bearbeitete. Steven Lamb sank in dem weißen Gras auf die Knie und sah einfach nur zu.
    Jonas wusste, dass es sinnlos war. Yvonne Marsh war tot und war wahrscheinlich schon seit Stunden tot gewesen. Jetzt, wo er darüber nachdachte, war da so ein leises Knistern zu hören gewesen, als er ihren Körper umgedreht hatte  – das Geräusch von Eis, das um sie herum zerbrach. Sie hatte schon eine ganze Weile hier gelegen, von den Ästen
des Schlehdorns und von dem Eis, das sie umschlang, an Ort und Stelle gehalten. Vielleicht schon die ganze Nacht. Wer konnte das sagen?
    Danny Marsh vielleicht. Oder sein Vater. Und selbst wenn sie das nicht wussten, dachte Jonas erschöpft, eins würden sie ganz sicher wissen: dass all ihre Wachsamkeit und ihre Türschlösser und ihre Liebe und ihre Fürsorge nicht ausgereicht hatten, um zu verhindern, dass eine hilflose Frau barfuß in den kalten Winter hinaustappte, in Schlüpfer und Schlabber-T-Shirt, um in einem eiskalten Bach zu ertrinken.
    Jeder musste irgendwann einmal schlafen, so war es nun einmal.
    Es war dieser Gedanke, der Jonas schließlich aufgeben ließ. Er blickte über den Bach zum Hochmoor hinüber und behielt jetzt all seine Atemluft für sich.
    »Ist sie tot?«, fragte Dougie Trewell mit bebender Stimme.
    »Ja«, sagte Jonas. All die Energie, die ihn an diesem Morgen erfüllt hatte, war dahin. »Komm lieber aus dem Wasser raus, Dougie.«
    Dougie ließ die Tote los, und Jonas spürte, wie viel von ihrem Gewicht er bei seinem Versuch zu helfen getragen hatte. »Danke«, sagte er, und der Junge nickte stumm. Er war Ronnie Trewells kleiner Bruder und bewegte sich daher stets hart am Rand der Straffälligkeit  – heute jedoch hatte er Charakter gezeigt. Etwas, worauf man hoffen konnte. Jonas wandte sich an den anderen Jungen, der meilenweit weg zu sein schien. »Bringst du Dougie nach Hause, Steven? Sorg dafür, dass er sich aufwärmt.«
    Langsam nahm Stevens Blick ihn wieder wahr.
    »Was?«
    »Hilf Dougie, Steven. Bring ihn nach Hause.«
    »Okay.«
    Steven streckte die Hand aus und half Dougie die Böschung hinauf, dann gingen sie benommen davon.
    Jonas begriff, dass er ihnen keine Anweisungen gegeben
hatte, Hilfe für ihn zu holen. Der Notarztwagen konnte auf den vereisten Straßen eine Ewigkeit brauchen. Vielleicht waren die Jungen nicht geistesgegenwärtig genug, an ihn zu denken. Er versuchte, sein Handy aus der Innentasche seiner Jacke zu ziehen, doch dieses Unterfangen erwies sich als unmöglich, solange er Yvonne Marsh festhielt. Schließlich wurde ihm klar, dass er ihren Leichnam dazu loslassen musste, also tat er es und merkte, wie die gemächliche Strömung begann, ihn ihm zu entziehen. Die Beine der Toten lagen noch immer im Wasser. Mit einer Hand umklammerte Jonas ihr gelbes T-Shirt, während er sein Telefon aufklappte. Ein Netzbalken. Zeichen und Wunder. Vielleicht sollte er seine

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