Der Bestatter: Thriller (Christian Beyer-Reihe)
Blick glänzt. Er versteht
nicht. Noch nicht. Aber zum ersten Mal sieht er seine Zukunft. Aus dem Feuer entsteht
neues Leben. So will es die Natur.
Sonntag, 3. Juli
Als Anna am nächsten Morgen aufwachte, war das Wetter
erneut umgeschlagen. Der Sommer schien nach anderthalb trockenen Tagen schon
wieder eine Pause einlegen zu wollen. Es ging ein kräftiger Wind, der die
dicken, dunklen Wolken vor sich hertrieb und immer wieder neue, noch dunklere
brachte. Es sah sehr nach Regen aus. Es sah nach Sintflut aus.
Anna betrat, in eine dünne Wolljacke gehüllt, die Wohnküche, wo ihre
Mutter bei einem kargen Frühstück saß. Ohne zu fragen und mit der
selbstverständlichen Vertrautheit der Familie nahm Anna ein bereits belegtes
Brot vom Teller und aß es im Stehen. Ihre Mutter wies sie auf einen Zettel von
Pete hin, auf dem er sich für den netten Abend bedankte.
»Nett? Ich wette, der erinnert sich an kein einziges Wort«, lachte
Anna.
Mit vollem Mund und möglichst beiläufig erwähnte sie, daß sie heute
nach Moordorf wegen einer Recherche für ein neues Buch fahren müsse. Ihren
Patienten hatte sie schon vorgestern wegen eines angeblichen Todesfalls in der
Familie für zwei Wochen abgesagt, den ernsteren Fällen Ersatztermine bei einem
Kollegen besorgt. Anna verspürte zwar ein schlechtes Gewissen ihren Patienten
gegenüber, doch sie konnte nicht anders. Sie verspürte auch ein schlechtes
Gewissen, weil sie ihre Mutter unter den gegebenen Umständen allein ließ. Aber
sie hatte schon vor Jahren aufgehört, ihr Leben mit den Problemen ihrer Eltern
zu belasten. Und so wollte sie es auch weiter halten.
»Wo liegt Moordorf? Nie gehört«, fragte Evelyn.
»Ein Kaff bei Aurich. Kommst du hier klar ohne mich?« Anna setzte
sich zu Evelyn an den Tisch und nahm sich Kaffee.
»In Aurich ist es schaurich«, murmelte ihre Mutter.
Pete kam reichlich zerknittert und verkatert im Büro an.
Mit kratziger Stimme bat er Yvonne, die selbst am Sonntag die Stellung hielt,
um eine Kanne extra starken Kaffee. Den geschärften Blicken seiner Kollegen
entging Petes desolater körperlicher Zustand nicht. Es entging ihnen ebenfalls
nicht, daß Pete, der wahrscheinlich bestangezogene Bulle Deutschlands, heute in
denselben Klamotten auflief wie gestern.
»Harte Nacht gehabt?« spöttelte Eberhard und warf ihm zwei Aspirin
zu, »du siehst aus, als wäre ein Traktor über dich gebrettert!«
»Deine Phantasie ist zu proletarisch, mein Lieber«, bemerkte Volker.
»Ich schließe aus den vielen Falten in Gesicht und Outfit unseres lieben
Kollegen Pitt auf einen facettenreichen Abend bei einer Therapeutin, die ihm
das Innerste nach außen gekehrt hat. Und auch wenn sein Hemd sehr ramponiert
wirkt oder eher plissiert, so vermute ich dennoch und gerade deswegen, daß
seine Psyche nach dieser Nacht geglättet ist. Der Anzug sieht aus wie in Jauche
geschwenkt, aber Pitts Seele hat im Jungbrunnen der Liebe gebadet – stimmt’s?«
Pete zeigte seinen Kollegen einen Vogel, durchquerte das Zimmer und
ging nach nebenan in sein Kabuff. Er ließ die Tür auf, setzte sich an seinen
Schreibtisch, die dampfende Kaffeetasse in der Hand, das Aspirin kauend. Er
hatte nicht bemerkt, daß hinter ihm auch Christian bei den anderen im Büro
eingetreten war und Volkers letzte Thesen zu Petes Nacht mit angehört hatte.
Christians Gesicht verfinsterte sich, er ging wortlos wieder hinaus. Wie hatte
Anna zu ihm gesagt: Sie eigne sich nicht zur Zweitfrau? Anscheinend hatte sie
sich doch wieder in Petes Harem eingereiht.
Anna war überrascht, wie einfach Walter und Irmgard
Petzold ihr Einlaß gewährten. Gestern hatte sie angerufen und behauptet, sie
sei bei Recherchen für ihr neues Buch – ein Werk über Kinder und Jugendliche,
die durch den Tod ihrer Eltern traumatisiert waren – auf die Geschichte der
Familie Detering und deren Drama von 1988 gestoßen. Und nun saß sie in dem
engen, überheizten Pfarrhaus vor aromatisiertem Tee und selbstgebackenen
Plätzchen und bekam bereitwillig Auskünfte vom Pastor und seiner Frau. Selbst
gegen das Tonband hatten sie nichts einzuwenden gehabt. Offensichtlich
passierte in der Gemeinde Moordorf nicht allzuviel, denn das Redebedürfnis,
insbesondere das von Frau Petzold, war groß.
»Direkt gegenüber hat es gestanden, das Musterhaus vom Detering.«
Sie wandte sich ihrem gemütlich in seinem Sessel thronenden Mann zu, »wann sind
sie hergezogen, Walter? Das war doch Ende der Siebziger, oder?«
Walter Petzold nickte: »Als
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