Der blinde Passagier
hat.“ Der Mann, der wie Einstein aussah, räusperte sich. „Das ist alles.“
„Und was die Kultur betrifft“, referierte ein jüngerer Herr mit Vollbart und Rollkragenpullover, „die üblichen Weihnachtspremieren. Darunter eine durchgefallene Oper, die nur deshalb nicht ausgepfiffen wurde, weil das Publikum während der Feiertage besonders höflich ist.“
Als jetzt eines der Telefone summte, nahm Dr. Liesegang ab und sagte dann: „Ausgezeichnet, er soll hereinkommen.“ Gleich darauf erschien Herr Purzer mit einem Stapel Fotos in der Hand. Der Chefredakteur schaute sich die Bilder der Reihe nach an. Zwischendurch meinte er: „Sprechen Sie ruhig weiter, meine Herren, ich höre zu.“
„Was den Sport betrifft“, meinte daraufhin ein dicker Pfeifenraucher, „Eishockey, Skispringen, Bundesliga, Hallenmeisterschaften im Schwimmen und im Tischtennis. Ich weiß gar nicht, wie ich alles unterbringen soll. Wenn mir einer der Herren noch ein halbe Seite abgibt?“
„Schönen Dank“, sagte Dr. Liesegang leise. „Und jetzt zischen Sie ab zu Ihrer Verlobung.“ Herr Purzer grüßte nach allen Seiten und verschwand.
„Und das Lokale?“ fragte Dr. Liesegang.
„Nichts Aufregendes“, meinte eine Dame in dunkelblauem Wollkostüm. „Aber wer erwartet schon, daß an den Weihnachtstagen etwas Spannendes passiert.“
„Mag schon stimmen“, gab Dr. Liesegang zu. „Aber wenn wir etwas Aufregendes hätten, wäre dagegen nichts einzuwenden, oder?“ Er lehnte sich in seinen Sessel zurück, zog an seiner Zigarre und sah dem Rauch nach.
Eine kleine Pause machte sich breit.
Und dann nahm Dr. Liesegang die Fotos, die Herr Purzer gerade bei ihm abgeliefert hatte. „Sehen Sie sich doch einmal diese Bilder an!“
Die Aufnahmen von Frau Schimmelpfennig, der Großmutter und der Schimmelpfennigschen Wohnung gingen um den Konferenztisch von Hand zu Hand. Zum Schluß gab der Chefredakteur auch noch ein paar Bilder von Peter Schimmelpfennig weiter. Sie stammten aus dem Familienalbum und zum Teil auch aus einer Schublade von Peters kleinem Schreibtisch. Dort hatte der Chefredakteur schließlich auch noch ein Foto des getürmten Untermieters entdeckt. Herr Sang Ping lächelte auf dem Bild gerade in die Kamera.
„Was sagen Sie?“ Dr. Liesegang genoß seine Zigarre und sah sich seine Redakteure der Reihe nach an.
„Nette, freundliche Gesichter“, meinte die Dame für Lokales. „Irgendwelche Verwandten von Ihnen?“
Der Chefredakteur schmunzelte.
„Nun rücken Sie schon heraus mit der Sprache!“ sagte jetzt der Herr, der so aussah wie Einstein. „Vermutlich haben Sie auch eine Geschichte, die etwas mit diesen netten, harmlosen Gesichtern zu tun hat?“
„Und diese Geschichte reißt Sie von den Stühlen“, prophezeite Dr. Liesegang.
Ein gewisser Rodrigo Sola drängt sich
in einen Lift und damit in die Geschichte
Eine ganze Weile fuhr der schwarze Chrysler mit Peter Schimmelpfennig durch Straßen, die dicht am Hafen liegen mußten. Immer wieder waren über den niedrigen Häusern Verladekräne zu sehen. Der dicke Brasilianer hinter dem Steuerrad kaute an seinem Zahnstocher. „Stop“, sagte er laut, wenn er bremsen mußte. Und dann gab er sich selbst genauso laut das Kommando zum Weiterfahren: „Go on!“ Wenn er ein anderes Auto überholen wollte, lachte er mit seinem ganzen unrasierten Gesicht: „Go away, baby! Go away!“ Dann drückte er gleichzeitig auf Gas und Hupe.
Die Menschen auf den Gehsteigen waren alle so leicht gekleidet wie bei uns im Hochsommer, und so ziemlich jede Hautfarbe spazierte durch die grelle Sonne. Überall gab es Restaurants, Cafes und Kinos.
„Avenida Presidente Vargas“, verkündete der Taxifahrer, als sein Chrysler in eine Straße einbog, die schnurgerade und mindestens hundert Meter breit war. Hier gab es ganz moderne Hochhäuser aus Stahl, Glas und Beton. Zwischendurch ging es an pompösen Standbildern von Marschällen und Seehelden vorbei, an Kirchen, Banken und den Bürobauten von Schifffahrtsgesellschaften und Firmen, die Kaffee exportierten.
„Here we are“, trompetete der unrasierte Brasilianer und trat auf die Bremse. Er kurvte an einem Wagen der Stadtreinigung vorbei zum Bordstein. Dann sagte er „Stop!“ und würgte den Motor ab. „Four thousand Cruzeiros, Sir.“
„One moment“, sagte Peter Schimmelpfennig, nahm seine Sachen und stieg aus.
„Hallo, my boy!“ Der Brasilianer schoß wie ein Blitz aus seinem Wagen. „Four thousand Cruzeiros“,
Weitere Kostenlose Bücher