Der Buddha aus der Vorstadt
Jamilas große Entscheidung völlig vergessen hatte. Als sie mir sagte, daß sie den Mann heiraten würde, den ihr Vater für sie unter Millionen ausgesucht hatte, und daß die ganze Sache damit nun beendet sei, klang ihre Stimme kalt und distanziert. Sie würde es überleben, sagte sie. Sie wollte kein Wort mehr davon hören.
Typisch Jamila, mußte ich immerzu denken, das paßte zu ihr, als passiere ihr so etwas jeden Tag. Aber ich war überzeugt, daß sie Changez aus einer perversen Lust heraus heiratete. Schließlich lebten wir in rebellischen und unkonventionellen Zeiten. Und Jamila interessierte sich für Anarchisten, Situationisten und für die Weathermen, schnitt entsprechende Artikel aus den Zeitungen aus und zeigte sie mir. Changez zu heiraten war für sie anscheinend eine Rebellion gegen die Rebellion, etwas kreativ Neues. Ihr ganzes Leben würde sich dadurch verändern, es würde zum Experiment. Sie behauptete, sie tue es ausschließlich für Jeeta, aber ich vermutete, daß dahinter ein manifester Widerspruchsgeist steckte.
Beim Essen saß ich neben Changez. Unfähig, etwas zu sich zu nehmen, kam es Helen buchstäblich hoch, als sie vom anderen Ende des Zimmers aus Changez zusah, wie er, den Kranz in den Haaren, einen Teller auf seinen Knien balancierte und mit seiner gesunden Hand aß, wobei er die paar Finger, die ihm zur Verfügung standen, flink zu gebrauchen wußte. Hatte er etwa noch nie mit Messer und Gabel gegessen? Jamila fand das natürlich bestimmt amüsant. Sie würde es weithin hörbar ihren Freundinnen zukrähen: »Wißt ihr eigentlich, daß mein Gatte noch nie in seinem Leben Besteck in der Hand hatte?«
Aber Changez sah so einsam aus - und aus der Nähe konnte ich einzelne Stoppeln aus seinem schlecht rasierten Kinn hervorstechen sehen -, daß selbst ich nicht auf meine übliche Art über ihn lachen konnte. Und er sprach so freundlich mit mir und mit solch unschuldiger Begeisterung, daß ich versucht war, zu Jamila zu sagen: Hey, so schlimm ist der eigentlich gar nicht!
»Würdest du mit mir ausgehen und mir die eine oder andere Sache zeigen, die ich vielleicht sehen möchte?« »Klar, wann immer du willst«, antwortete ich.
»Ich würde auch gern ein Kricketspiel sehen. Wir könnten ja zu den Lords gehen. Ich habe mein eigenes Fernglas mitgebracht.«
»Großartig.«
»Und in Buchläden? Ich habe gehört, daß es viele solcher Unternehmen auf der Charing Cross Road gibt.«
»Stimmt. Was liest du gerne?«
»Die Klassiker«, sagte er, ohne zu zögern. Ich merkte, daß er einen Hang zur Überheblichkeit hatte, so sicher schien er sich seines Geschmacks und seines Urteils zu sein. »Magst du auch die Klassiker?«
»Du meinst doch nicht diesen griechischen Mist? Vergil, Dante, Homo oder so?«
»Für mich geht nichts über P. G. Wodehouse und Conan Doyle! Kannst du mir das Sherlock-Holmes-Haus in der Baker Street zeigen? Ich mag auch Simon Templar und Mickey Spillane. Und Western! Alle Filme mit Randolph Scott! Oder mit Gary Cooper! Oder mit John Wayne!«
Ich sagte, um ihn auf die Probe zu stellen: »Wir können eine Menge Sachen machen. Und wir können Jamila mitnehmen!«
Ohne Jamila anzusehen, sagte er: »Das wäre toll.« Und stopfte sich dabei den Mund mit Reis und Erbsen voll, bis sich seine Wangen aufblähten - er war wirklich ein gieriger Fresser.
»Ihr beiden Ärsche seid jetzt also richtige Kumpel«, zischte mich Jamila später an. Anwar hatte Changez wieder in Beschlag genommen und klärte ihn geduldig über den Laden, den Grossisten und die finanzielle Situation auf. Changez sah dabei aus dem Fenster, kratzte sich am Hintern und ignorierte seinen Schwiegervater völlig, so daß dem keine andere Wahl blieb, als mit seinen Erklärungen fortzufahren. Noch während Anwar auf ihn einredete, drehte sich Changez um und sagte: »Ich hatte gedacht, daß es in England viel kälter sein würde.«
Anwar war verstört. Diese zusammenhanglose Bemerkung hatte ihn völlig aus dem Konzept gebracht.
»Aber ich sprach gerade von den Gemüsepreisen«, sagte Anwar.
»Warum?« fragte ihn Changez erstaunt. »Ich esse hauptsächlich Fleisch.«
Anwar gab darauf keine Antwort, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht wechselte von Verblüffung zu Verwirrung und dann zu Ärger. Und wieder schielte er auf Changez’ nutzlose Hand, als wolle er sich noch einmal vergewissern, daß sein Bruder ihm als Mann für seine einzige Tochter tatsächlich einen Krüppel geschickt hatte.
»Ich glaube, Changez
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