Der Buddha aus der Vorstadt
wie ich konnte. Als sie sich aus dem Bett erhob, ins Badezimmer ging und mir befahl, die Zeichnung nicht anzusehen, ergriff ich die Gelegenheit und betrachtete sie eingehend.
»Sitz still«, klagte sie, als sie zurückkam und die Zeichnung wieder in die Hand nahm. »Deine Augen wollen mir nicht gelingen.«
Wie sollte ich es ihr begreiflich machen? Vielleicht sollte ich besser nichts sagen. Aber ich war Rationalist.
»Mum«, sagte ich. »Du hast mich angesehen, Karim, deinen ältesten Sohn. Aber das Bild da - und es ist ein großartiges Bild, gar nicht besonders haarig - ist ein Bild von Dad, oder vielleicht nicht? Das ist Dads große Nase und sein Doppelkinn. Diese Säcke unter den Augen sind seine - nicht meine. Mum, das Gesicht hat mit meinem Gesicht überhaupt keine Ähnlichkeit.«
»Nun, Liebling, Vater und Sohn werden sich ähnlich.« Und sie warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu. »Schließlich habt ihr mich beide verlassen.«
»Ich habe dich nicht verlassen«, sagte ich. »Ich bin immer da, wenn du mich brauchst. Ich studiere nur, das ist alles.« »Schon gut, ich weiß, was du studierst.« Eigenartig, wie oft meine Familie über mich und das, was ich tat, sarkastische Bemerkungen machte. Sie sagte: »Ich bin ganz allein. Keiner liebt mich.«
»Doch, das tun wir wohl.«
»Nein, keiner hilft mir. Keiner unternimmt irgend etwas, um mir zu helfen.«
»Mum, ich liebe dich«, sagte ich. »Auch wenn mein Verhalten nicht immer danach aussieht.«
»Nein«, sagte sie.
Ich küßte sie, umarmte sie und versuchte, ohne mich von jemandem zu verabschieden, aus dem Haus zu kommen. Ich schlich nach unten, ging raus und näherte mich erfolgreich der Gartentür, als Ted um das Haus gesprintet kam und mich festhielt. Er mußte auf der Lauer gelegen haben. »Sag deinem Dad, daß wir alle zu schätzen wissen, was er getan hat. Für mich hat er jedenfalls eine Riesenmenge getan!«
»Okay, mach ich«, sagte ich und riß mich von ihm los. »Nicht vergessen.«
»Nein, nein.«
Ich rannte fast zurück nach Südlondon und zu Jamilas Wohnung. Dort machte ich mir eine Kanne Pfefferminztee und saß schweigend am Wohnzimmertisch. Meine Gedanken tobten. Ich versuchte, mich abzulenken, indem ich mich auf Jamila konzentrierte. Sie saß wie immer an ihrem Tisch, ihr Gesicht war von einer billigen Leselampe erleuchtet. Ein großes Glas mit purpurroten, wilden Blumen und Eukalyptusblättern stand auf einem Stapel von Büchern aus der Leihbücherei. Wenn man an jemanden denkt, den man anbetet, lassen sich gewöhnlich Augenblicke finden - vielleicht auch Nachmittage oder ganze Wochen -, in denen sie uns am vollkommensten erscheinen, in denen Jugend und Weisheit, Schönheit und Haltung sich auf perfekte Art ergänzen. Und als Jamila dort saß, vor sich hinsummte und selbstvergessen las, während Changez, umgeben von mit Staubfusseln bedeckten Specials, Kricketheften und halb leergegessenen Kekspackungen, auf seinem Bett lag und in ihren Anblick vertieft war, spürte ich, daß dies ein Moment von äußerster Stimmigkeit war. Ich hätte dort auch wie ein Fan sitzen können, der einer Schauspielerin zusieht, wie ein Liebhaber, der seine Geliebte betrachtet, zufrieden, nicht an Mum denken zu müssen und daran, was wir für sie tun könnten. Kann man überhaupt etwas für jemand anderen tun?
Changez ließ mich meinen Tee austrinken; meine Unruhe legte sich ein wenig. Dann sah er mich an.
»Okay?« fragte er.
»Was ist >okay«
Changez stemmte seinen Körper vom Feldbett hoch wie jemand, der versuchte, mit fünf Fußbällen unter dem Arm zu laufen. »Komm mit.« Er zog mich in die winzige Küche. »Hör zu, Karim«, flüsterte er. »Ich muß heute nachmittag ausgehen.«
»Yeah?«
»Ja.«
Er versuchte, seinen aufgeblasenen Zügen einen bedeutsamen Ausdruck zu verleihen. Alles, was er tat, gefiel mir. Ihn zu ärgern, war eine der bewährtesten Freuden meines Lebens. »Dann geh«, sagte ich. »Gibt es hier vielleicht einen Wächter, der dich davon abhält?«
»Pssst. Ich will mit meiner Freundin Shinko ausgehen«, sagte er vertraulich. »Sie zeigt mir den Tower von London. Und ich habe von neuen Stellungen gelesen,yaar. Ziemlich verrückt, die Frau auf den Knien und der Mann von hinten. Also bleib du hier und lenk Jamila ab.«
»Jamila ablenken?« lachte ich. »Ihr ist es völlig egal, Blase, ob du hier bist oder nicht. Ihr ist es egal, wo du bist.« »Was?«
»Warum auch nicht, Changez?«
»Gut, gut«, sagte er ausweichend.
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