Der Bund der silbernen Lanze: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Entscheidung. Unter dieser Annahme erstaunte allerdings sehr, dass Rupert mir nichts, dir nichts das Gift aus der Tasche hatte zaubern können. Wer brachte schon aus einer Laune heraus Gift mit zu einem Fest? Das schien wenig plausibel. Doch galt auch zu bedenken, dass es sich bei dem roten Fingerhut um eine Substanz handelte, die lediglich in hoher Dosis schadete, wohingegen sie – in geringer Menge verabreicht – als Heilmittel diente. Aus dem roten Fingerhut gewonnenes Pulver setzte man vorwiegend zum Schutz gegen den bösen Blick ein, aber Laetitia glaubte sich zu erinnern, dass die Schwester Botanikerin im Kloster Paraklet ebenso auf seine Wirkung schwor, wenn es einem Menschen mit schwachem Herzen zu helfen galt. Vielleicht litt der Mörder an einer Herzkrankheit und hatte sich spontan dazu entschlossen, sein Heil- als todbringendes Mittel einzusetzen?
Verflucht, sie würde alles darum geben, an Rupert Anzeichen dafür zu bemerken, dass er an einer Schwäche des Herzens oder einer anderen Krankheit litt. Doch niemals hatte sein Verhalten Anlass zu dieser Annahme geboten. Die Unterstellung, dass er aus gesundheitlichen Gründen stets einige Blätter des roten Fingerhuts bei sich führte, entbehrte demnach jeglicher Grundlage.
Interessant schien Laetitia die Frage, ob es einen Zusammenhang mit Sebastians Entdeckung in der Kammer des erzbischöflichen Palastes gab, in der Brigitta umgebracht gewesen war. Dort, gleich neben der Leiche, hatte er Blüten des roten Fingerhuts gefunden. Waren sie dem Mörder aus der Tasche geglitten, als er die Hure überwältigte und mit dem Küchenmesser erstach? Laetitia war hin und her gerissen. Einerseits durchdrang sie ein vehementes Misstrauen gegen Rupert, andererseits wusste sie genau, dass jeglicher Verdacht ohne Beweis auf tönernen Füßen stand.
Sie trat zurück an den Seitentisch zu Sebastian, der die Diener nach einer Bahre schickte. Ihre Abscheu überwindend zwang sie sich, die Leiche zu betrachten. Wenn nicht der unnatürlich offenstehende Mund wäre, aus dem Speichel herausgelaufen war, würde Gerwins Gesicht friedlich wie das eines Schlafenden wirken. Seltsam, welch falschen Schein der Tod zuweilen erweckte. Laetitias Blick glitt vom Kopf des Ermordeten über seinen unnatürlich verrenkten Leib. Was war das? Blinkte es da nicht an Gerwins Gürtel? Auch Sebastian hatte es bemerkt, denn er beugte sich über die Leiche. Als er sich kurz danach wieder aufrichtete, hielt er einen ledernen Beutel in der Hand, in dem drei herrliche Smaragde funkelten! Wortlos starrte er Laetitia an und in beiden brannte die gleiche Frage: Wie war Gerwin in den Besitz der Edelsteine gekommen, die ihr Heloïse zum Auslösen der Briefe mitgegeben hatte?
Laetitias Wangen überzog dunkle Röte. Sie schämte sich plötzlich dafür, die wertvollen Steine vollkommen vergessen zu haben. Nur mit der kopflosen Aufregung, in die sie die Morde und die ungerechtfertigte Beschuldigung Margunds gestürzt hatten, konnte sie sich ihre Nachlässigkeit erklären. Doch weitaus drängender als der Selbstvorwurf stellte sich die Frage, ob Gerwin die Steine entwendet oder aber von Karolina erhalten hatte. Das wiederum hieße, dass die Nonne ihr die Steine gestohlen hatte, statt sie zu verwahren. Welche Frechheit! Und vor allem: Warum und als Preis wofür ?
Eine düstere Ahnung beschlich Laetitia. Trug Karolina, die in Vertretung der Schwester Botanikerin hin und wieder ans Bett eines Kranken gerufen wurde, nicht meist einen Beutel bei sich? Einen Beutel, in dem sich allerlei Pulver und Säfte befanden, die Fluch oder Segen bedeuten konnten. Wenn es irgendjemanden unter den Gästen gab, der Kenntnisse über die Wirkungsweise von Giften – auch von dem des roten Fingerhuts – besaß, dann wahrhaftig sie. Laetitia fragte sich, ob Karolina tatsächlich nach einer kranken Novizin sehen musste oder dem Fest hatte entfliehen wollen, bevor das Gift seine Wirkung bei Gerwin tat?
In Laetitias eigenen Adern strömte mit einem Mal ebenfalls Gift, ein Gift, das heimtückischer und böser war als jedes andere: das Gift des Misstrauens. Im nächsten Moment wiederum schüttelte sie den Kopf. Welch Unfug! Was für einen Grund sollte Karolina haben, Gerwin zu töten? Ihr hatten seine provokativen Äußerungen nicht gegolten. Laetitia empfand Scham. Was machten all diese schrecklichen Erlebnisse aus ihr? Um ein Haar hatte sie sich ein Verdachtsgebäude gegen einen der aufrichtigsten und bewunderungswürdigsten Menschen
Weitere Kostenlose Bücher