Der Dorfpfarrer (German Edition)
gesagt.«
Véronique ergriff den Arm ihrer Mutter und führte ihren Sohn an der Hand; kaum aber machte sie einige Schritte, als ihre Kräfte sie verließen.
»Was hat sie? ... Was ist geschehen??« fragte man die Sauviat.
»Oh, meine Tochter ist in Gefahr!« erwiderte die alte Auvergnatin mit tiefer und hohler Stimme.
Man mußte Madame Graslin in ihren Wagen tragen, sie wünschte, daß Aline mit Francis einstiege, und gab Gérard ein Zeichen, sie zu begleiten.
»Sie sind, glaube ich, in England gewesen,« sagte sie zu ihm, als sie ihre Lebensgeister wiedererlangt hatte, »und verstehen Englisch? Was bedeuten die Worte: dear brother?«
»Wer weiß das nicht?« rief Gérard. »Sie heißen: lieber Bruder.«
Véronique tauschte einen Blick mit Aline und der Sauviat aus, der sie schaudern machte, aber sie verbargen ihre Erregung. Die Freudenschreie aller derer, die der Abfahrt der Wagen beiwohnten, die Pracht des Sonnenuntergangs auf den Wiesen, der vollendete Gang der Pferde, das Gelächter ihrer folgenden Freunde, der Galopp, zu dem die, welche sie zu Pferde begleiteten, ihre Tiere anspornten, nichts zog Madame Graslin aus ihrer Betäubung. Ihre Mutter ließ den Kutscher sich beeilen und ihr Wagen kam als erster im Schlosse an. Als die Gesellschaft dort vereinigt war, erfuhr man, daß Véronique sich in ihrem Zimmer eingeschlossen habe und keinen Menschen sehen wolle.
»Ich fürchte,« sagte Gérard zu seinen Freunden, »Madame Graslin hat einen Todesstoß erhalten.«
»Wo? ... Wie? ...« fragte man ihn.
»Im Herzen,« antwortete Gérard.
Am übernächsten Tage reiste Roubaud nach Paris. Er hatte Madame Graslin so schwer leidend gefunden, daß er, um sie dem Tode zu entreißen, die Ratschläge und Hilfe des besten Pariser Arztes holen wollte. Véronique hatte Roubaud aber nur empfangen, um den Zudringlichkeiten ihrer Mutter und Alines, die sie inständig baten, sich zu pflegen, ein Ziel zu stecken: sie fühlte sich zu Tode getroffen.
Sie weigerte sich, Monsieur Bonnet zu sehen. Sie ließ ihm antworten, es sei noch nicht Zeit. Obwohl alle ihre zum Geburtstag aus Limoges gekommenen Freunde bei ihr bleiben wollten, bat sie sie, zu entschuldigen, wenn sie die Pflichten der Gastfreundschaft nicht erfülle, doch sie wünsche in der tiefsten Einsamkeit zu bleiben. Nach Roubauds jäher Abreise kehrten die Gäste aus Schloß Montégnac weniger verstimmt als verzweifelt nach Limoges zurück, denn alle, die Grossetête mitgebracht hatte, beteten Véronique an. Man verlor sich in Mutmaßungen über das Ereignis, das diesen geheimnisvollen bösen Unfall hatte verursachen können.
Eines Abends, zwei Tage nach der Abreise der zahlreichen Familie der Grossetête, führte Aline Cathérine in Madame Graslins Gemach. Die Farrabesche stand wie angenagelt beim Anblick der Veränderung, die sich so plötzlich mit ihrer Herrin vollzogen hatte, deren Antlitz sie wie vom Tode verzerrt sah.
»Mein Gott, Madame,« rief sie, »welch ein Unglück hat das arme Mädchen angerichtet! Wenn wir das hätten vorausahnen können, würden wir, Farrabesche und ich, sie nie bei uns aufgenommen haben. Eben hat sie gehört, daß Madame krank sei, und schickt mich, um Madame Sauviat zu sagen, daß sie sie sprechen möchte!«
»Hier!« rief Véronique. »Schnell, wo ist sie?«
»Mein Mann hat sie nach der Sennhütte gebracht.«
»Es ist gut,« sagte Madame Graslin; »verlassen Sie uns, und sagen Sie Farrabesche, er solle sich entfernen. Melden Sie der Dame, daß meine Mutter sie aufsuchen würde, sie möge sie erwarten.«
Als die Nacht gekommen war, ging Véronique, auf ihre Mutter gestützt, langsam durch den Park bis zur Sennhütte. Der Mond schien in seinem ganzen Glanze, die Luft war mild, und die beiden sichtlich bewegten Frauen erhielten gewissermaßen Ermutigungen durch die Natur. Von Augenblick zu Augenblick blieb die Sauviat stehen und ließ ihre Tochter sich ausruhen, deren Leiden so qualvoll waren, daß Véronique erst gegen Mitternacht den Pfad erreichen konnte, der durch die Wälder nach der abfallenden Wiese hinunterführte, wo das silbrige Dach der Sennhütte glänzte. Das Mondlicht verlieh der Oberfläche der stillen Gewässer Perlenfarbe. Die feinen Geräusche der Nacht, die im Schweigen so widerhallen, bildeten einen sanften Wohlklang. Véronique setzte sich inmitten des schönen Schauspiels dieser Sternennacht auf die Sennhüttenbank. Das Murmeln zweier Stimmen und das Geräusch, welches die Schritte zweier noch entfernter
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