Der Drachenflüsterer - Der Schwur der Geächteten
eingefallen. Die Haut seines nackten Oberkörpers war von der Sonne verbrannt, vom Wetter gegerbt. Seine Augen glänzten wie im Fieber.
»Das Böse ist gekommen, und es kam in harmloser Gestalt, um uns zu täuschen. Denn Samoth ist der große Täuscher!«, rief der Prediger der Menge zu, während sich Ben möglichst unauffällig einen Weg durch die Zuhörer bahnte. Es waren Männer, Frauen und Kinder von unterschiedlichem Stand, die alle mit ängstlichen Blicken an den aufgerissenen Lippen des Mannes hingen. Er sprach mit Inbrunst und hob dabei beschwörend die Hände. »Und der große Täuscher kam aus der schwärzesten Tiefe herauf und fuhr in den Körper eines schmächtigen Jungen. Dessen Vater erkannte seine böse Natur und floh, weil er zu schwach und feige war, sich gegen einen Gott zu stellen. Ja, und ich sage euch, viele Männer wären an seiner Stelle geflohen, denn viele sind schwach und feige. Die Mutter kämpfte mit all ihrer Liebe länger um ihren Sohn, doch schließlich gab auch sie auf und ertränkte sich. Denn wie konnte sie einen Sohn lieben, in den Samoth gefahren war? So blieb der Junge allein zurück, und seine Bosheit konnte ins Grenzenlose wachsen, ohne dass ihr jemand mit strenger Hand Einhalt gebot. Und weil Samoth das Stückwerk liebt, das Chaos und die Unordnung, weil er der
Gott der tausend Lügen ist und stets seine dunkle Natur zu verbergen trachtet, trug der Junge eine Hose aus tausend bunten Fetzen, eine Verhöhnung jedes anständigen Beinkleids.«
Ben stutzte und starrte den Prediger an. Vor Überraschung vergaß er sogar, über diesen Unsinn zu lachen. Allerdings lachte auch keiner der Zuhörer. Sprach der Prediger auf der Kiste etwa von ihm? Hatte er ihn gerade wirklich Samoth genannt, das Böse? Vorsichtig tastete er nach seiner Hose unter dem Hemd, überprüfte, dass sie nicht versehentlich irgendwo heraushing, und ging weiter.
»Und er kam auf die Erde und tötete einen aufrechten Ritter!« Der Prediger spuckte die Worte jetzt förmlich aus, seine Rede wurde mit jedem Satz schriller und eindringlicher. »Er stahl den Drachen des aufrechten Ordensmanns und verfluchte das arme Geschöpf, indem er ihm neue Flügel schenkte! Er rief eine weitere geflügelte Bestie herbei, und auf dieser saßen zwei Dämonen, die ebenfalls die Gestalt zweier unschuldiger Kinder angenommen hatten. Ein wunderschönes Mädchen und ein glockenhell lachender Knabe. Mit unheiliger Freude schlachteten sie einen verdienten Drachenreiter und sieben unschuldige Männer ab, vergossen ihr Blut in den tiefsten Höhlen des nördlichen Wolkengebirges und beschworen so den großen Drachen herbei, den fluchbeladenen Boten des Weltenendes. Seine Flügel sind so gigantisch, dass ihr nachtgleicher Schatten eine ganze Stadt bedeckt, wenn der Drache vor der Sonne vorüberfliegt. Und dieser Schatten ist so sehr von Samoths Gift und Dunkelheit erfüllt, dass jeder Zehnte in ihm an der schwarz eiternden Pest erkrankt, jeder Zwanzigste mit Blindheit geschlagen wird, und jedem Dreißigsten faulen beide Füße ab und zerfallen zu leichenfressenden Würmern, auf dass er sich nur noch auf schmerzenden
Knien fortbewegen kann. Denn so will der große Täuscher Samoth die Menschheit sehen: krank und blind und kriechend!«
Die Menge knurrte und fluchte, jammerte über Samoths Macht und das Ende der Welt und erflehte murmelnd Hellwahs Hilfe. Ein paar wenige wandten sich kopfschüttelnd ab, doch die meisten starrten weiter zum Prediger hinauf, damit er ihnen von weiteren Ereignissen und kommenden Gefahren berichtete. Manch einer hob den Kopf und suchte den Himmel ab, als fürchte er jeden Moment die Ankunft des unheilbringenden Drachen.
Stinkender Trollbollen noch mal, dem Spinner hat Hellwah wirklich das Hirn auf die Größe einer runzligen Kiebelnuss verbrannt, dachte Ben. Jetzt also das Ende der Welt. Was würde ihnen demnächst noch alles in die Schuhe geschoben werden?
Kopfschüttelnd ließ er den Prediger und seine furchtsame Gemeinde hinter sich und eilte weiter, ohne sich noch einmal umzudrehen.
ABSCHIED
A ls Ben das prächtige und weitläufige Anwesen des Kaufmanns Dicime erreichte, war seine Angst vor Entdeckung ein gutes Stück geschrumpft. Nicht weit von hier war er seinen ersten beiden Verfolgern begegnet, die ihren dicken Kameraden irgendwo hinter sich gelassen hatten. Verschwitzt, missmutig und sich gegenseitig ankeifend waren sie an Ben vorbeigehastet, hatten ihn wie alle anderen Passanten mit einem kurzen
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