Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift
ich es ohnehin gewöhnt war. Ray schlief mit einem Backenknochen an meiner Schulter und gab ein Geräusch von sich, das zwar nicht wirklich ein Schnarchen, aber doch ein uvulares Vibrieren beim Ausatmen war. Er kratzte sich, entließ etwas Luft aus den unteren Regionen und lächelte selig. Ich versuchte, ihn abzuschütteln, aber nun lag er in einem völlig unnatürlichen Winkel da, der Hals überstreckt, das Kinn bei meiner Schulter eingehängt. Sollten Köpfe nicht auf Kissen liegen? Hatten Betten im Laufe der Evolution nicht eine Breite entwickelt, die es dem Körper gestattete, auch im Schlaf seine Integrität zu bewahren?
Zusätzlich zu seinen Zuckungen und Eruptionen hinderten mich auch meine Gedanken am Einschlafen. Schlaflosigkeit war mir, der chronisch erschöpften Ärztin im Praktikum, völlig neu. Ich rief mir die schönen Momente des Tages in Erinnerung, welche die Zahl der peinlichen sicherlich überstiegen. Ich dachte auch daran, Schafe zu zählen, entschied mich aber dann, die Hirnnerven und die acht Schichten der Bauchdecke zu rekapitulieren. Trotzdem setzte sich das wahre Leben gegen medizinische Details durch. Panik schlich sich in jedes neue Thema ein. Das Allerschlimmste: Ich war verheiratet. Was sich gestern noch wie überzeugende Argumente angehört hatte (»Jeder hat seine Zweifel. Jeder Mensch überlegt sich auf dem Weg zum Altar noch einmal, ob er nicht die Beine in die Hand nehmen und in die entgegengesetzte Richtung abhauen soll. Und weißt du was? Wenn du deine Meinung änderst, können wir uns immer noch scheiden lassen.«), klang in meinen nächtlichen Ohren wie die reine Verzweiflung. Warum hatte er es so eilig gehabt? Warum ausgerechnet dieses Wochenende und nicht erst in einem halben Jahr?
Der Geist von Mary Ciccarelli erschien mir. Warum hatte ich keine forensischen Fragen gestellt? Wie und wo war es zu ihrem Unfall gekommen? Hatte es eine Autopsie gegeben? Waren Gewebeproben aufbewahrt worden?
Außer dem Empfangschef wusste niemand auf der Welt, wo ich war. Man würde einen Privatdetektiv engagieren müssen, um mich zu finden. Wenn man mich überhaupt je wieder fand. Der Teich da draußen war schlammig, schwarz, undurchsichtig, vielleicht unendlich tief. Wer würde mich überhaupt vermissen? Erst mussten meine Eltern zwei und zwei zusammenzählen und meine Unterlagen vom Zahnarzt anfordern, und meine aufgeblähte Leiche musste auch noch an die Oberfläche treiben. Bis dahin war ich eine nicht identifizierte Leiche, der berüchtigte Kadaver von Cape Cod.
Irgendjemand musste wissen, wo ich war. Wen konnte ich anrufen? Ich schlüpfte aus dem Bett. Ray regte sich zwar, röchelte ein wenig, erwachte aber nicht. Ich nahm sein Handy mit ins Bad und rief meine eigene Nummer an. »Hier spricht Alice Thrift. Nur für den Fall, dass irgendjemand nach mir sucht. Ich bin im Upstream Inn in Falmouth, Massachusetts. Ich habe heute, den 15. März auf dem Standesamt in Boston Ray Russo aus Brighton, Massachusetts geheiratet. Ich werde vermutlich Samstag, den 16. wieder da sein. Höchstwahrscheinlich wird diese Information gar nicht notwendig sein.«
»Alice«, hörte ich Rays Stimme. »Was’n los?«
»Ich habe keiner Menschenseele gesagt, wo ich hinfahre. Ich wollte diese Info nur für den Notfall auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen.«
»Schön«, murmelte er.
»Geh wieder schlafen.«
»Du auch, Schatz«, antwortete er. »Komm ins Bett.«
Das tat ich auch. Ich schubste ihn ein paar Zentimeter auf seine Seite hinüber und stopfte ihm ein Kissen unter den Kopf. Er lächelte, als wären dies die Handreichungen einer hingebungsvollen Gefährtin.
»Lieb dich«, murmelte er.
Das war allerdings eine Tatsache, die man nur schwer ignorieren konnte: Mein Ehemann hatte nicht nur nichts gegen mich, er betete mich an. Er war so leicht zufrieden zu stellen, so begierig, hinter jeder vorsorglichen Geste einen Akt von Zärtlichkeit zu entdecken. War das nicht schon Grund genug zu heiraten? War es nicht seliger zu geben als zu nehmen?
Ich schämte mich, dass meine Gedanken in jenen Gehirnfurchen stecken geblieben waren, in denen das Misstrauen hauste. Hier war ein Leidender, ein Witwer, ein Mensch, der schwer arbeitete und auf keine großen Errungenschaften verweisen konnte, äußerlich unattraktiv. Und doch war er überzeugt, dass ich ihm Freude und Zufriedenheit gebracht hatte und, selbst als Ärztin auf Bewährung, eine gewisse Klasse oder einen Stammbaum. Für Ray Russo war ich ein Erfolg -
Weitere Kostenlose Bücher