Der dreizehnte Apostel
…«
»Das sage ich nicht. Ich sage nur, daß ich glaube … Nun, es hat eigent lich keinen Sinn, darüber zu re den.«
Der Rabbi stand immer noch hinter seinem Schreibtisch. Er hatte nun alle Schubladen geschlossen und all seine Papiere zu einem Stapel aufgeschichtet. »Nein, es hat Sinn, darüber zu sprechen. Sie können mich nicht kränken. Nicht hier. Wir sind in Erez Israel. Anders als in den Staaten sprechen wir hier offen über alles, und als unser Gast steht es Ihnen frei, dasselbe zu tun.«
Na gut, dann würde sie es tun. »Rabbi, am Freitag, als ich im moslemischen Viertel war, habe ich das Sabbathorn gehört …«
Wieder lachte er. »Mir gefällt das. Wir könnten das auf den Markt bringen, ein Sabbatophon, so wie ein Saxophon.«
»Und ich saß an der III. Kreuzwegstation, wissen Sie, da wo die Via Dolorosa auf die – wie heißt die Straße noch? – trifft …«
»Weiß schon, was Sie meinen.«
»Und da kommen auf einmal all diese chassidischen Jungs aus dem jüdischen Viertel. Nicht durch das christliche Viertel, was schneller gehen würde, oder durch das Jaffator, sondern durch das moslemische Viertel, die Köpfe mit Schals bedeckt. Sie rennen in großer Geschwindigkeit durch dieses … dieses unreine Gebiet von Ungläubigen. Kein Blickkontakt, keine Rücksicht auf kleine Kinder oder alte Frauen, die im Weg stehen könnten. Und O’Hanrahan sagte, wenn sie dann in die Synagoge kommen, wischen sie sich die Schuhe ab, weil sie über den Boden dieser
unreinen Leute gelaufen sind.«
»So?«
Lucy hatte das Gefühl, der Fall sei klar. »Man kann sich auf dieser Welt einfach nicht so verhalten. Nicht mehr. Ich meine, mit dieser Art von Arroganz werdet ihr Juden eines Tages noch ausgerottet werden. Ich meine, das ist keine Art, Freunde zu gewinnen und Menschen zu beeinflussen.«
»Nun«, erwiderte der Rabbi geduldig, »wir waren die Elite des aristokratischen Deutschland, Mendelssohn und die Rothschilds, wir waren führende Geister an allen weltlichen Universitäten, Glanzlichter der Gesellschaft, und was hat es uns genützt? Wir sind in Europa trotzdem ausgerottet worden.«
Lucy nickte schwermütig. »Ja, das ist wahr. Aber erwarten Sie, daß ich glücklich darüber bin, wenn mich andere so geringachten und nicht einmal als Mitmenschen anerkennen? Gott hat auch mich geschaffen – als Nichtjüdin und als Frau.«
»Gott mag das gleichgültig sein, aber für die Thora ist es nicht egal.«
»Ich vermute, das will ich damit sagen. Ich bin nicht so scharf auf die Thora, wenn man sie nicht den modernen Verhältnissen anpassen kann.«
»Auf den neuesten Stand bringen wie ein Handbuch oder die Punktezahl bei einem Spiel?« lachte der Rabbi kopfschüttelnd, als er Lucy aus dem Büro den Gang hinunter begleitete. »Gehen Sie einfach anderswohin, wo die Thora nicht angewandt wird. Es sind weiß Gott genug andere Orte auf der Welt übrig. Es gibt auf jeden Fall nur 20 Millionen Juden, und die meisten befolgen die Thora nicht, die meisten sind keine Chassidim, und nur eine Handvoll, eine Handvoll ist durch das moslemische Viertel gerast. Aber Sie wollen Juden nach dieser Unannehmlichkeit von fünf Minuten, dieser empfundenen Kränkung beurteilen? Versuchen Sie nicht, sich mit den Chassidim anzufreunden, und man wird Sie nicht kränken. Was erwarten Sie? Einen ausgerollten roten Teppich?«
»Ich werde nie einen Disput mit Ihnen gewinnen, Rabbi …«
»Das ist wahr.«
Verärgert fuhr Lucy fort: »Aber es gibt Millionen von Moslems, und ihr Juden sitzt mitten unter ihnen und seid nur so wenige. Vielleicht wäre ein wenig Höflichkeit angebracht.«
Mit einer leichten Berührung geleitete der Rabbi Lucy zur Tür hinaus. »Mit anderen Worten: Assimiliert euch! Wie Sie neulich abends sagten. Seid vielleicht ein bisschen netter! Hört auf mit dem Komplex, daß jeder andere nicht koscher ist! Das meinen Sie, hm?«
Lucy und Rabbi Hersch gingen zusammen über den ruhigen Campus Givat Ram zur Bushaltestelle der Universität.
»Wissen Sie«, fuhr Lucy fort, »unsere US-Steuergelder tragen auch dazu bei, daß dieses Land weiterhin existieren kann, und ich denke, es wäre diplomatisch, wenn man höflich auf meine Existenz reagierte. Ebenso , wie ein Mensch, der 1990 auf diesem Planeten lebt, einem anderen Menschen begegnet.«
»Ein interessantes Argument, Ihre Steuergelder. Sie wollen den Gegenwert für Ihr Geld von Israel, diesem … diesem Mär chenpark für Figuren aus dem Al ten Testament, nicht wahr? Tausend
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