Der Duft von Orangen (German Edition)
hinausging, schnell die Wahrheit. Auf keinen Fall war ich jemals während einer länger andauernden Episode irgendwo hingegangen oder hatte etwas Derartiges getan wie heute.
Ich zählte die Schritte und Minuten von meiner Tür zum Wohnzimmer. Zur Küche. Zum Schlafzimmer und zurück. Keine Kleider. Keine Anzeichen dafür, dass ich durch die Gegend gestolpert war und Unsinn angestellt hatte.
Ich ging zurück auf die vordere Veranda und schaute zum Bürgersteig. Ich war mir nicht sicher, ob ich hoffte, unter der Straßenlampe einen Stapel Kleider zu sehen oder nicht. Doch ich sah nur Joe, den Typen, der mit seiner Frau eine Straße weiter wohnte und immer mit seinem Hund hier spazieren ging. Er winkte mir mit dem leeren Gassibeutel in der Hand zu.
Ich zog meinen Bademantel enger um mich und winkte zurück. Die kalte Luft sog die ganze Wärme aus der Haustür. Meine Füße waren nackt, also konnte ich nicht zu ihm gehen. Ich rief ihm zu.
„Hi!“
„Hi, Emm. Wie geht’s?“ Joe sah aus, als friere er.
Chuckles, der Hund, blieb stehen, um meinen Rasen zu beschnüffeln und sein Bein an einem der struppigen Büsche zu heben, die ich sowieso rausnehmen wollte, also war es mir egal. Wenn sein Hund in meinen Garten kackte, machte Joe die Hinterlassenschaften immer weg.
„Gut. Äh, bist du schon länger unterwegs?“
Joe sah erst seinen Hund, dann mich an. „Du meinst mit Chuckles?“
„Ja. Seid ihr schon einmal um den Block?“
„Ja. Ich bin gerade auf dem Heimweg. Wieso?“ „Hast du … mich gesehen?“
Joe schwieg ein paar Sekunden, in denen mir die Hitze in die Wangen stieg, was sich im kalten Wind besonders warm anfühlte. „Hätte ich dich sehen sollen?“
Ich zwang mich zu einem Lachen. „Nein, nein. Ich frage mich nur, ob du mich heute irgendwo anders als an meinem Haus gesehen hast.“
Joe zögerte erneut. „Ist mit dir wirklich alles in Ordnung?“
„Oh, sicher, sicher.“ Ich winkte ab, als wäre es vollkommen normal für mich, an einem eisigen Winterabend einen Halbfremden barfuß und im Bademantel von der Tür aus zu begrüßen. „Ich war vorhin spazieren und dachte, ich hätte euch gesehen und dir zugewinkt, aber … das warst du wohl gar nicht.“
„Ah.“ Joe zog an Chuckles Leine, um ihn daran zu hindern, inden Garten meiner Nachbarin zu gehen, weil die auf das kleinste Tröpfchen Hundepipi höchst allergisch reagierte. „Nein, das war ich wirklich nicht. Ist viel zu kalt, um lange draußen zu bleiben.“
„Stimmt. Na dann war es wohl jemand anderes. Sorry.“
„Kein Problem. Schönen Abend noch.“ Joe winkte noch einmal und setzte seinen Weg fort.
„Gleichfalls“, rief ich ihm schwach hinterher und schloss meine Tür.
Die Genossenschaftsbank hatte eine großzügige Regelung, was Krankheits- und Urlaubstage anging. Obwohl es mir nicht recht war, Tage, die ich am Strand verbringen könnte, damit zu vergeuden, in meinem Bett zu liegen, rief ich am nächsten Morgen in der Firma an und behauptete, eine böse Erkältung zu haben. Ich fühlte mich ein wenig fiebrig, aber nicht wirklich krank. Ich konnte nur einfach nicht aufhören, an den gestrigen Abend zu denken.
Selbst bei meinen schlimmsten Episoden hatte ich mich immer glücklich geschätzt, dass sie keinen bleibenden Schaden hinterließen. Am Steuer sitzend in Trance zu fallen wäre unglaublich gefährlich, weshalb ich ja auch einen Großteil meines Erwachsenenlebens ohne Führerschein hatte auskommen müssen. Aber egal wie regelmäßig ich das Bewusstsein verlor, keiner der Tests hatte je Beweise für einen echten Gehirnschaden erbringen können. Ich blieb ein medizinisches Rätsel. Es gab dicke Aktenordner voller Testergebnisse und Berichte, aber keine Diagnose. Mein Gehirn zeigte unregelmäßige, irreguläre und unvorhersehbare Aktivitäten, die anscheinend mit Medikamenten und alternativen Heilmethoden unter Kontrolle gebracht werden konnten. Doch niemand hatte je Anzeichen dafür entdeckt, dass es schlimmer wurde.
Was also hatte sich geändert? Hatte der Stress des Alleinwohnens etwas in mir getriggert? War etwas in meinem Gehirn geplatzt, ein Blutpfropf oder ein Aneurysma? Ich lag im Bett, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, und zitterte. Würde ich wissen, wenn so etwas passiert wäre? Hätte ich Schmerzen?
Vielleicht würde ich einfach nur in der Dunkelheit versinken und nie wieder auftauchen.
Möglicherweise reagierte ich aber auch über. Ich zwang mich, aufzustehen und heiß zu duschen. Danach ging ich in
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