Der dunkle Ritter (German Edition)
nach langer Zeit niemand antwortete, erhob sich Emmalyn und strich sich den Schmutz und kleine Zweigstücke von den Röcken. Vielleicht war es nur der Wind gewesen, der ihre Ohren getrogen hatte, entschied sie. Trotzdem lauschte sie genauer auf die Laute um sich herum, während sie den Dolch zog und sich daranmachte, einige Rosen zu schneiden, um sie mit in den Turm zu nehmen. Da hörte sie wieder ein Geräusch, dieses Mal war sie sich ganz sicher. Und es war nur einige Schritte hinter ihr. Emmalyn wirbelte herum, den Dolch in der Hand und bereit, sich zu verteidigen.
Sie machte einen Schritt vor und schaute sich um. Es gab keine Hinweise auf eine Gefahr oder auf Eindringlinge, als sie den Blick durch den Garten schweifen ließ, aber zu ihren Füßen entdeckte sie etwas Seltsames. Auf der Erde lagen Gänseblümchenblüten, die jemand zu einem großen Herz gelegt hatte. Während Emmalyn auf den hübschen, kindlichen Blütenschmuck blickte, wich die Furcht, die sie eben noch empfunden hatte, einem Gefühl des Staunens … und der Verwunderung.
»Wer –« Eine Bewegung, die sie aus dem Augenwinkel wahrnahm, ließ ihr fragendes Flüstern verstummen. Hinter einem Busch nahe dem Eingang des Gartens stand der kleine Junge aus dem Obstgarten. »Oh! Du bist es«, sagte Emmalyn. Sie schob den Dolch zurück und ging langsam näher, damit sie den Jungen nicht vertrieb. »Du warst so leise, dass ich dich gar nicht bemerkt habe.«
War es ihre Freundlichkeit, die ihn aus dem Dickicht herauslockte, oder wollte er darin einfach nicht länger gefangen sein – aus welchem Grund auch immer, der Junge kam langsam näher. Das arme Kind brauchte verzweifelt Fürsorge und Essen, sein Äußeres hatte sich noch verschlimmert, seit sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Er sah hungrig aus und ein Bad war seit Langem überfällig, denn sein Gesicht und seine Kleider starrten vor Schmutz und Dreck. Ihr Herz sehnte sich danach, sich um ihn zu kümmern.
»Hast du diese schönen Blumen für mich dorthin gelegt?«
Anfangs glaubte sie nicht, dass er antworten würde, aber dann nickte er. Der wachsame, bohrende Blick aus seinen braunen Augen ließ keinen Moment ihr Gesicht los, während er das Dickicht hinter sich ließ und vor dem Gartentor stehen blieb. Jeder Muskel war angespannt und bereit zu einer sofortigen Flucht.
»Danke«, sagte Emmalyn und machte noch einen Schritt auf ihn zu. Sie versuchte, ihm durch ein Lächeln Sicherheit zu geben. An seinem fragenden Blick erkannte Emmalyn, dass sie schrecklich aussehen musste mit ihrem verweinten Gesicht und den geschwollenen Augen. »D-du … weinst?«, stammelte der Junge und überraschte sie schließlich doch mit dem Klang seiner Stimme.
»Du kannst sprechen«, stieß Emmalyn hervor, und bevor sie bemerkte, was sie tat, machte sie einen weiteren Schritt auf ihn zu. Wie ein äsendes Reh, das der Feldhüter fangen will, sprang der Junge über das Tor, brachte sich in Sicherheit. Er stand auf der anderen Seite der hölzernen Barriere, die er fest umklammert hielt.
So nah wie Emmalyn ihm jetzt war, konnte sie erkennen, dass er wieder geschlagen worden war; seine Verletzungen waren frischer als die, die er bei ihrem ersten Zusammentreffen gehabt hatte. Und was sie für Schmutz gehalten hatte, der an seinem Mundwinkel klebte, war in Wahrheit getrocknetes Blut. Da sie den Jungen jetzt wiedergesehen hatte, konnte Emmalyn nicht sagen, welcher Wunsch der stärkere war: diese vernachlässigte Seele zu trösten oder denjenigen zu bestrafen, der für die Verfassung des Kindes verantwortlich war. »Hab bitte keine Angst. Ich würde dir nie wehtun. Das verspreche ich dir.«
Er sah nicht so aus, als vertraute er diesen Worten, lief aber auch nicht davon, als Emmalyn noch einen Schritt auf ihn zumachte und die Hand ausstreckte. »Komm mit mir in die Burg«, schmeichelte sie. »Wenn du hungrig bist – ich habe Schinken, und wenn mich nicht alles täuscht, rieche ich einen süßen Honigkuchen, der in der Küche gebacken wird. Ich bin sicher, ich könnte den Koch überreden, dir ein Stück zu geben, solange es noch warm ist. Würde dir das gefallen?«
Seine Augen strahlten auf, und er nickte, doch dann, als hätte er es sich plötzlich anders überlegt, wich er hastig von dem Gartentor zurück.
»Geh nicht«, bat Emmalyn. »Du musst nicht dorthin zurück.«
Nach einem letzten langen Blick wandte der Junge sich auf dem Absatz um und rannte davon.
12
Fallonmours Ritter kehrten zur Abendmahlzeit in die Burg
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