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Der einzige Sieg

Der einzige Sieg

Titel: Der einzige Sieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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atmete unbewußt auf. Dann schob er die Zeitungsausschnitte beiseite, überlegte es sich, legte sie wieder in die Kunststoffmappe und warf alles in den leeren Papierkorb unter dem Schreibtisch.
    Er versuchte, sich zusammenzunehmen, und konzentrierte sich auf den nächsten Bericht des Stapels. Er war in jener Abteilung des Nachrichtendienstes zusammengestellt worden, die eher scherzhaft unter der Bezeichnung »die Reederei« lief. Dort saß Åke Stålhandske als Verbindungsoffizier. Es ging um die Hintergründe dafür, daß Estland, das weder eine eigene metallurgische Industrie besaß noch Metalle erzeugte, dennoch in kurzer Zeit zu einem der weltgrößten Exporteure bestimmter Metalle geworden war, nämlich von Mangan, Chrom, Vanadium und Titan. Der jährliche Export aus Estland belief sich auf ungefähr 238 000 Tonnen.
    Carl kritzelte Diebesgut an den Rand. Eine andere Erklärung gab es nicht. Der gesamte Handel mit diesen strategischen Metallen war früher durch strenge sowjetische Gesetze geregelt gewesen, und die gesamte Produktion war vom Staat kontrolliert worden. In irgendeiner Form war es wohl immer noch so.
    Die Exporteure schienen jedoch Privatpersonen zu sein, genauer: Gangster. Einige Angaben aus der russischen Moscow News ließen erkennen, daß im letzten Jahr zahlreiche Unternehmer in der Metallbranche ermordet worden waren. Die sogenannte russische Mafia war dabei, diesen sicher sehr lohnenden Export an sich zu reißen; der Weltmarktpreis von Titan, hauptsächlich aus den USA und Japan, lag bei rund zwölftausend Dollar pro Tonne.
    Carl versuchte, zwölftausend Dollar in Rubel umzurechnen, entdeckte aber schnell, daß der Betrag so riesig wurde, daß er keinerlei Aussagekraft mehr besaß.
    Ein Eisenbahnwaggon, der angeblich mit Metallschrott beladen war, hatte tatsächlich 42,6 Tonnen reines Titan geladen, wie sich bei einer Kontrolle herausgestellt hatte. Carl rechnete kurz und kam auf einen Betrag von rund einer halben Million Dollar. Überdies war der gestohlene Waggon auf militärischem Gelände angetroffen worden.
    Ein lustigeres Beispiel war der Fall der Titan-Spaten. Eine erst vor kurzem gegründete Firma der Branche hatte eine Zeitlang mit Erfolg über Estland Spaten exportiert. Wie jemand auf die Idee kommen konnte, ausgerechnet bei russischen Spaten Exportchancen zu wittern, war unerfindlich. Nach einiger Zeit war der Schwindel jedoch aufgeflogen. Die Griffe der Spaten waren ganz gewöhnliche Holzgriffe, aber die eigentlichen Spaten waren aus reinem Titan gefertigt.
    Eine zunehmende Gangsterherrschaft und ein Militär, das sich am Schmuggel beteiligte. Vielleicht hatte Boris Jelzin doch seine Gründe gehabt, an die Öffentlichkeit zu gehen und mit dem Tod zu drohen. Wahrscheinlich hatten rund eine Million Menschen zumindest theoretisch die Möglichkeit, Kernwaffen zu stehlen. Carl hatte die Vision einer anschwellenden Flut sowjetischer Kernwaffen, die in alle Himmelsrichtungen transportiert wurden, kreuz und quer auf die alten Grenzen zu und vielleicht schon bald von Estland übers Meer oder durch die östliche Türkei in den Irak oder wieder durch Finnland.
    Er versank eine Zeitlang in Grübeleien, wie sich der Verkehr auf der Ostsee kontrollieren lassen könnte. Technisch war es sicher absolut möglich. Mit Hilfe von Satelliten und Luftüberwachung würde man eine perfekte Kontrolle darüber aufbauen können, welche Schiffe baltische Häfen verließen. Falls ein deutscher Hafen angelaufen wurde, konnten sie dort kontrolliert werden. Bei der Weiterfahrt durch den Großen oder Kleinen Belt konnte man sie da zur Kontrolle stoppen. Praktische Schwierigkeiten gab es also nicht. Wenn aber Politiker anfingen, das Recht auf freie Seefahrt und ähnliches zu diskutieren, würde es schließlich doch unmöglich werden, wie wichtig die Frage auch erscheinen mochte. Politiker haben nichts gegen Meuchelmorde, sind dagegen sehr empfindlich, wenn es um Verstöße gegen die Gesetze des freien Welthandels geht, besonders bei Tageslicht.
    Er wurde in seinen Überlegungen unterbrochen, als die junge Sekretärin der Abteilung – die meisten, die beim Ministerpräsidenten arbeiteten, kamen ihm auffallend jung vor – anklopfte und mitteilte, der Ministerpräsident wolle ihn jetzt gleich zu einem kurzen Gespräch sehen, falls er Zeit habe.
    Carl stand auf und zog lachend sein Jackett an. Ob er Zeit habe?
    Er ging durch die Korridore und setzte sich vor dem kleinen Wartezimmer mit dem Fikus und blätterte eine

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