Der Flug des Falken
vor ihren leblos ausgestreckten Fingern.
Anastasia ignorierte ihre tote Herausforderin und setzte sich. Sie nahm ihre Suppentasse und hob das Druckventil an die vollen Lippen.
Ihre blauen Augen blickten über die geschlossene Tasse in die fast weißblauen Augen Ian Murchisons. Als bloßer Tech hätte er normalerweise nicht zusammen mit Kriegern essen dürfen, aber der ergraute Northwinder war Anastasia Kerenskys persönlicher MedTech, wie er es schon als ihr Leibeigener gewesen war. Zumeist bestand sie noch immer auf seiner Begleitung.
»Was?«, fragte sie. »Du hast doch gesagt, ich soll mich weniger anstrengen.«
Murchison runzelte die Stirn. Normalerweise war es nicht gerade schlau für ein Mitglied einer niederen Kaste, an der Handlungsweise einer Kriegerin herumzumäkeln, schon gar nicht, wenn sie mehr als eine Galaxis ClanKrieger kommandierte. Aber Murchison war noch nie sonderlich schlau gewesen. Obwohl er nicht nur Sphäroide, sondern lebenslanger Zivilist gewesen war - Vertrags-MedTech auf der Balfour-Douglas-Petrochemicals-Bohrplattform 47 an der Oilfieldsküste Northwinds, wo Anastasia ihn persönlich bei einer Geheimaktion zusammen mit der
Plattform als Beute genommen hatte besaß er den Mumm eines Wolf-Kriegers, wohlgemerkt eines echten Wolfs, nicht dieser Stahlwolf-Möchtegerns. Deshalb lebte er noch und hatte es zum adoptierten Mitglied des Wolfsclans gebracht.
Für eine Wölfin schien es dennoch eine ungewöhnlich sentimentale Anwandlung zu sein, ihn weiter an ihrer Seite zu behalten. Aber dem war nicht so. Er war ein ausgebildeter MedTech, und die einzige lebende Seele bei den Stahlwölfen, der sie genug vertraute, um sich von ihr behandeln zu lassen, wenn sie geschwächt oder kampfunfähig war. Was in letzter Zeit recht häufig vorkam.
»Ich werde Ihnen nicht raten, vernünftiger zu sein«, schnarrte er mit rauer Stimme. »Ich bin zu alt, meinen Atem dafür zu verschwenden. Aber ich möchte sie schon dran erinnern, dass Schusswunden - erst recht von Laserwaffen - langsamer verheilen als Messerstiche.«
Er hatte nicht darum gebeten, ein Wolf zu werden. Er hatte sich allerdings auch nicht gewehrt, als Anastasia die letzte Schlaufe der Leibeigenenkordel durchtrennt und ihn zum Clanner gemacht hatte. Nicht, dass er überhaupt eine Wahl gehabt hatte -und bei allem Mumm war er kein Selbstmörder.
Dazu war er zu vernünftig - ein weiterer Grund, warum ihn Anastasia am Leben ließ und in ihrer Nähe behielt.
Langsam hoben die anderen ihre Stühle auf und setzten sich ebenfalls. Stechende Blicke trafen sie.
Sie beachtete sie nicht, auch wenn sie sich jedes einzelnen wütenden Augenpaares bewusst war.
Sie bedeuteten nichts Neues. Seit dem ersten Rückschlag auf Northwind hatte sie mit Herausforderungen von Untergebenen zu kämpfen. Selbst nachdem sie die verbliebenen Anhänger Kai Radicks ausgemerzt hatte, den sie selbst herausgefordert und in einem unbewaffneten Zweikampf getötet hatte, sei es durch Gefechtseinsatz oder gescheiterte Herausforderungen gegen ihren Führungsanspruch, waren immer wieder neue Aspiranten angetreten, um ihr die Macht zu entreißen.
Erst recht jetzt, nach der katastrophal gescheiterten Invasion der heiligen Erde Terras. Nach Anastasias Ausfall durch die Folgen einer tiefen Schnittwunde im Bauch - die von einem Duell mit dem letzten verbitterten Radick-Anhänger, Sterncolonel Marks, herrührte und nicht genügend ausgeheilt gewesen war -hatte der Angriff mit einer beschämenden Niederlage geendet. Und seither kam es fast wöchentlich zu einer neuen Herausforderung. Obwohl sie alle dasselbe bedrückend vorhersehbare Ergebnis zeitigten.
Denn genau über den Köpfen der aufgebrachten Stahlwölfe hing die reiche Vergnügungswelt La Blon, so völlig im Bann ihres vergnügten Hedonismus, dass sie sich vor den Schrecken des Krieges sicher fühlte. Tatsächlich hatte die Geschichte der letzten Jahrhunderte diesen Glauben bestätigt. Nicht einmal der Heilige Krieg der Blakisten hatte La Blon erreicht. Im wörtlichsten Sinne unter den Füßen der Renegaten, auf der dem Planeten zugewandten Seite des Trabanten, den die Einheimischen Iwanow nannten, während ihm seine heimlichen Bewohner den Namen Wolfmond gegeben hatten, lag die reiche Stadt Aussichtspunkt und fünfhundert Kilometer von ihr entfernt ein großer, automatisierter Raumhafen. Beide so wehrlose und verlockende Beute wie ein paar angepflockte Lämmer.
Aber Anastasia verbat ihren Wölfen, sie sich zu holen. Sie
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