Der Frauenheld
mit moules meunières , zu diesem Gefühl großer Erschöpfung, mit dem er die Touristen beobachtete, die vielleicht alle von dem träumten, was immer er träumte, aber in Wirklichkeit ganz genau wußten, wo sie hingingen, und ebenso genau, warum sie da waren. Möglicherweise waren sie die Klügeren, dachte er, mit ihrem warm erleuchteten, eng bemessenen Leben in weit entfernten Landschaften. Vielleicht hatte er den Punkt schon erreicht oder war sogar darüber hinaus, wo er sich nicht mehr darum kümmerte, was mit ihm selbst geschah – wobei die Verknüpfungspunkte eines guten Lebens, das wußte er, klein und subtil waren und meistens bloß Glücksfälle, die man kaum bemerkte. Aber man konnte sie zerstören und nie ganz genau wissen, wie man es eigentlich angestellt hatte. Bloß, daß alles anfing, schiefzugehen und auseinanderzufallen. Das eigene Leben konnte auf dem Weg in die Zerstörung sein, so daß man auf der Straße landete, vollkommen aus dem Blickfeld verschwand, und man selbst konnte, trotz aller Bemühungen und aller Hoffnungen, daß es anders liefe, nur danebenstehen und zuschauen.
An den nächsten beiden Tagen rief er Josephine Belliard nicht an, obwohl er die ganze Zeit daran dachte, sie anzurufen. Er dachte, er würde ihr vielleicht zufälligerweise begegnen, wie sie gerade zur Arbeit ging. Seine protzige kleine Wohnung eines Roué war nur vier Blocks vom Verlag entfernt, bei dem sie arbeitete, in der rue de Lille, und wo er, in einem vollkommen anderen Leben, vor kaum mehr als einer Woche einen absolut respektablen Geschäftsbesuch gemacht hatte.
Er spazierte, sooft er konnte, durch die nahe gelegenen Straßen, um eine Zeitung oder Lebensmittel bei den kleinen Marktständen an der rue de Seine zu kaufen, oder bloß, um sich die Schaufenster anzusehen und sich in den schmalen, gepflasterten Gassen allmählich zurechtzufinden. Ihm mißfiel der Gedanke, daß er bloß wegen Josephine Belliard in Frankreich war, bloß wegen einer Frau, und noch dazu wegen einer, die er in Wirklichkeit kaum kannte, aber an die er dennoch ständig dachte und die er mit nicht nachlassendem Eifer »zufällig« treffen wollte. Er hatte das Gefühl, er sei aus einem anderen Grund da, einem subtilen, beharrlichen, wenn auch weniger greifbaren Grund, den er vor sich selbst nicht genau benennen konnte, der aber, wie er fühlte, letztlich nur dadurch, daß er hier war und sich so fühlte, wie er es jetzt tat, seinen Ausdruck finden würde.
Aber er sah Josephine Belliard nicht ein einziges Mal auf der rue de Lille oder dem Boulevard St. Germain auf dem Weg zur Arbeit oder am Café Flore oder der Brasserie Lipp vorbeigehen, wo er erst vor einer Woche mit ihr zu Mittag gegessen hatte und wo die Forelle ganz sandig gewesen war, was er aber nicht erwähnt hatte.
Bei seinen Spaziergängen durch fremde Straßen dachte er oft über Barbara nach; nicht mit einem Gefühl der Schuld oder gar des Verlusts, sondern unwillkürlich, gewohnheitsmäßig. Ihm fiel auf, daß er für sie einkaufte; er entdeckte eine Bluse oder einen Schal oder einen antiken Anhänger oder ein Paar emaillierte Ohrringe, die er kaufen und mit nach Hause bringen konnte. Ihm fiel auf, wie er sich Dinge merkte, die er ihr erzählen wollte – daß in Frankreich zum Beispiel siebzig Prozent der Bevölkerung für Atomwaffen waren, eine Schlagzeile, die er auf der Titelseite des L’Express entziffert hatte und die in seinem Kopf kursierte wie ein Elektron, das keinen anderen Gegenpol besaß als Barbara, die tatsächlich eine Befürworterin atomarer Macht war. Sie besetzte, das erkannte er, den Ort letzter Konsequenz in seinem Leben – der Bestimmungsort von praktisch allem, was ihm wichtig war oder was er wahrnahm oder sich vorstellte. Und so einen Menschen traf man nur einmal im Leben. Bloß erfuhr diese Situation im Moment, oder zumindest vorläufig, eine Veränderung. Solche Dinge, wie in Paris zu sein und auf seine Chance zu warten, Josephine zu sehen, hatten gewissermaßen keinen Bestimmungsort, oder anders gesagt, sie begannen und erloschen in ihm selbst. Und so wollte er die Dinge jetzt haben. Das war die verworrene Erklärung, die er in den letzten paar Tagen nicht genau artikuliert hatte. Er wollte, daß die Dinge, was immer für Dinge es waren, nur ihn und nichts als ihn betrafen.
Am dritten Tag, um vier Uhr nachmittags, rief er Josephine Belliard an. Er rief sie zu Hause statt im Büro an und dachte, daß sie nicht da sein würde und daß er eine kurze,
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