Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
Seine Faust raste auf das überirdisch schöne Gesicht des Goldenen zu. Leider verfehlte er die Nase, da Mica sich blitzartig zurückwarf und über das Bett rollte. Einzig seine Schulter hatte er gestreift. Der Vampir war selbst in halb wachem Zustand verdammt schnell. Auf der anderen Seite des Bettes kam er auf die Füße.
„Hast du den Verstand verloren, Garou? Was soll das?“
„Du scheinheiliges Arschloch! Wenn ihr etwas zustößt, hast du sie auf dem Gewissen! Mir hältst du Vorträge und dann schickst du sie zu einem Meuchelmörder, damit sie für dich den Karren aus dem Dreck zieht?“
In den Türkisaugen sammelte sich Eis. „Was?“
Juvenal glaubte, vollends verrückt zu werden. Es war seine Schuld. Durch hochfahrende Worte hatte er Mica verleitet, ihm einen Giftstachel ins Herz zu treiben.
„Was willst du mir beweisen, Reißzahn?“, brüllte er. „Willst du herausfinden, ob ich tatenlos zusehe, wie du ihr Leben riskierst, um deinen Arsch zu retten?“
„Berenike ist zu ihm gegangen? Aber ich …“
Juvenal war die Ausflüchte leid und setzte über das Bett. Mit einer knappen Drehung seines Oberkörpers wich Mica seinem Hieb aus. Seine Faust donnerte in den Schrank, vor dem Mica gestanden hatte, und brach durch das Holz. Im Zurückziehen rissen die Splitter seinen Unterarm auf. Als er herumwirbelte, war Mica abermals auf Abstand gegangen.
„Ich habe Berenike verboten, das Haus zu verlassen. Schwören musste sie es mir.“ Angestrengt runzelte er die Stirn. „Allerdings weiß ich nicht, ob sie ihren Schwur geleistet hat. Ich schlief ein. Wann ist sie gegangen?“
„Vor etwa drei Stunden“, gab Grishan Antwort, der von der Tür aus zugesehen hatte.
Drei Stunden. Juvenal entzog es den Boden unter den Füßen. Er musste sich am Bettpfosten festhalten. Ein Vampir brauchte keine Stunde, um sein Opfer bis zum letzten Blutstropfen auszusaugen. Wenn Branwyn den Schlaf gemieden hatte, indem er sich in vollkommene Dunkelheit zurückzog, wäre es bereits zu spät. Bei den Zitzen der Luna, er war zu alt für diese Scheiße! Ihm war kein Werwolf bekannt, der frühzeitig an Herzversagen gestorben wäre. Somit wäre er der Erste, dem dieser Tod drohte.
„Warte, Juvenal!“, rief Mica ihm nach, als er davonstob und Grishan aus dem Weg stieß.
Worauf sollte er warten? Um den Weg nach unten abzukürzen, sprang er über die Brüstung des Obergeschosses und stürmte in die Küche. Dort wurde er von Sancho erwartet. Bleich, doch gefasst wie eh und je, hielt der Omega ihm zwei lange Tranchiermesser entgegen.
„Das ist alles, was dieses Haus an Waffen hergibt, Herr.“
Die scharfen Klingen dienten dazu, Wild auszuweiden und Fleisch zu zerlegen. Sie reichten aus, einem Vampir den Kopf von den Schultern zu säbeln. Juvenal steckte die Messer in seinen Gürtel. Als er sich umdrehte, war der Ausgang von Mica und Grishan blockiert.
„Ich hole sie da raus, Juvenal,“ sagte Mica.
„Du? Du hast das Unheil doch erst auf sie herabbeschworen mit deinen Einflüsterungen. Lass mich durch.“
„Sie hatte einen Plan, und ich habe ihr verboten, ihn auszuführen. Du bringst sie in Gefahr, wenn du mit diesen albernen Tranchiermessern bei Branwyn eindringst.“
Berenike war bereits in Gefahr. Der Blutsauger würde ihren Körper umschlingen und seine Fänge in ihren Hals bohren. Jetzt, in diesem Augenblick, konnte es geschehen, während sie sich mit Worten aufhielten. Seine Reißzähne bildeten sich heraus, drückten gegen die Innenseite seiner Lippen. In seinem Rücken öffnete Sancho das kleine Küchenfenster.
„Gib mir noch eine halbe Stunde, Juvenal. Dann ist es dunkel und ich kann dich begleiten. Ohne meine Unterstützung bist du …“
„Sie ist seit drei Stunden bei ihm!“, brüllte Juvenal in einer Lautstärke, vor der Sancho in die hinterste Ecke zurückwich. „Ich warte keine Sekunde länger! Grishan, du wirst mir den Weg zeigen.“
Eine weitere Aufforderung brauchte Grishan nicht, um mit einem Hechtsprung aus dem Fenster zu setzen. Mica konnte ihn nicht aufhalten. Das bläuliche Abendleuchten war kaum weniger geworden und lastete gleich einem schweren Gewicht auf ihm. Er musste sich an den Türrahmen lehnen, um sich aufrecht zu halten. Bis die Nacht hereinbrach, vergingen kostbare Minuten. Sie wussten es beide.
„Ich komme nach, so schnell es geht. Handle überlegt, Juvenal.“
Ohne darauf zu erwidern, hechtete Juvenal nach draußen und rannte auf Grishan zu, der am Rande der Lichtung wartete.
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