Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
anderen. Mica drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und wandte sich zur Tür.
„Sei ein braves Mädchen und bleib im Bett, bis ich zurückkehre.“
Das Leuchten seiner Türkisaugen strahlte überirdisch. Alles stand für ihn auf dem Spiel, und doch gab es keine Anzeichen von Nervosität. Als ginge es zu einem gemütlichen Spaziergang, verließ er im Schlenderschritt das Schlafgemach. Auf seinen Schultern konnte das Gewicht der Welt ruhen, und er würde es tragen. Als sie noch eine sehr kleine Lamia war, war sie stolz auf ihren Bruder gewesen. Jetzt kehrte dieser Stolz zu ihr zurück.
Im Untergeschoss hörte sie seine Stimme. Sancho und Grishan antworteten. Sie wartete, bis er das Haus verließ, ehe sie aus dem Bett stieg und auf nackten Sohlen in die Küche ging. Grishan hatte Mica begleitet und Sancho war nirgends zu sehen. In die Bodendielen war eine Lukenklappe eingelassen, die in den Weinkeller führte. Berenike umfasste den kalten Eisenring und hob die Luke an. Die Angeln waren geölt und gaben kein Geräusch von sich. Ein diffuser Lichtschimmer erhellte die steile Holzstiege nach unten. Herber Farngeruch schwebte zu ihr auf. Es war ein unwiderstehliches Lockmittel, dem sie ohne Zögern folgte. Sie brauchte Gewissheit.
8
D
er Ruf des vollen Mondes hatte auf jeden Alphawolf andere Auswirkungen. Für Juvenal besaß er den Klang einer verstimmten Harfe, die einmal aus weiter Ferne, dann wieder ganz nah ein Rieseln aus Tönen über ihn ergoss. Mit den Jahrzehnten waren die Krämpfe und damit der Schmerz ausgeblieben. Er spürte die Bestie lediglich als eine Art Zupfen in seinem Körper. Gelegentlich zuckte einer seiner Muskeln, ohne dass er es verhindern konnte. Mit gestreckten Beinen saß er auf einem Heulager, über das Sancho eine Wolldecke gebreitet hatte. In seinen Rücken drückte sich angenehm kühl der Stein der Kellerwand. Das leichte Batisthemd klebte an seinem Oberkörper. Schweißausbrüche waren das einzig sichtbare Anzeichen seiner Konfrontation mit der Bestie. Wie jeder andere Alphawolf wollte er in den Vollmondnächten unter dem Mond dahinrennen, der Welt seine wahre Natur zeigen und Schrecken verbreiten, doch er wusste gleichzeitig, dass er dieser Sehnsucht standhalten konnte. Er hatte die Bestie akzeptiert. Sie konnte zu seinem ärgsten Feind werden, gleichwohl war sie im Kampf gegen das alte Volk über Jahrhunderte ein treuer Verbündeter gewesen. Ohne ihr Wirken wären weitaus mehr Werwölfe in den großen Schlachten gefallen. Sie war der Preis, den sie für ihre Siege zahlten, und wenn er eines bereute, dann die Tatsache, dass er diesen Preis an seine Söhne vererbt hatte und er für Alba und Gilian zu hoch gewesen war.
Als er sich bei diesem Gedanken ertappte, zwang er sich, an etwas anderes zu denken. Er musste alles ausschließen, das ihn aufwühlte. Um sich abzulenken, zählte er die staubigen Weinflaschen in den Regalen. Vielleicht sollte er sich einen Becher Wein genehmigen, anstatt die ganze Nacht Wasser zu trinken. Mit Wein war vieles leichter zu verkraften. Vor allem Berenikes Zustand. Über Stunden hatte er sie betrachtet. Wie ein Leichnam hatte sie auf dem Bett gelegen, als er sie verlassen musste. Selbstschutz, so hatte Mica ihre totenähnliche Starre genannt. Auf dieses Urteil musste sich Juvenal verlassen und daran glauben, dass sie bis zum nächsten Morgen überlebte. Bis dahin schien es ihm eine größere Tortur, ihr fernzubleiben, als die Bestie zu zügeln. Mit einem dumpfen Knurren entschied er sich gegen den Wein und nippte an seinem Wasserbecher. Als unerwartet eine Gestalt neben dem Regal auftauchte, verschluckte er sich.
„Entschuldige, ich hätte wohl lauter auftreten sollen, damit du mich hörst.“
Berenike lehnte sich an das Regal und schlang die Arme um ihre Taille. Das Honigbraun ihrer Haut wirkte durchscheinend. In dem weiten Nachthemd sah sie erschreckend schmal aus. Die lange Kaskade aus schwarzem Haar, die glatt über ihren Rücken fiel, verstärkte ihre Zerbrechlichkeit. Ein letztes Mal hustete Juvenal und räusperte sich. Jede Unregelmäßigkeit war ein Vorteil für die Bestie. Ihr Rumoren wurde stärker, je näher Berenike ihm war.
„Was machst du hier?“, fragte er heiser.
Ihre Mandelaugen schweiften über sein offenes Hemd und verharrten ungebührlich lange auf seinem verschwitzten Hosenbund. Als sie wieder in sein Gesicht sah, schloss er hastig die Augen. Seine Iriden hatten sich von Braun in ein bedrohliches Gelb verfärbt, und das war kein
Weitere Kostenlose Bücher