Der Gast: Roman
gemacht hat. Und dafür, was er eines Tages anderen antun könnte. Ich hätte ihm eine Kugel in den Kopf jagen sollen.
Aber sie wollte ihr Gewissen nicht damit belasten. Außerdem hätte es sie eine Kugel gekostet.
Sie hatte reichlich Munition in der Hosentasche. Es wäre jedoch schwierig gewesen, eine neue Patrone in das Magazin zu bekommen. Mit ihrem verletzten Daumen. Schmerzhaft.
Sie sah zu Sue hinüber. »Wie geht’s dir?«, fragte sie.
Sue antwortete nicht. Ihr Körper vibrierte wegen des unebenen Straßenbelags in der Gasse.
Mit der linken Hand am Lenkrad griff Marta hinüber und zog Sues Pullover herunter.
Am Ende der Gasse hielt sie an. Sie beugte sich über Sue, küsste sie sanft auf die Wange, nahm den Sicherheitsgurt und schnallte sie an.
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Voller Entsetzen versuchte Vince, den Revolver in Anschlag zu bringen. Seine Hand bewegte sich keine fünf Zentimeter, ehe Glitts eiserner Griff sie stoppte.
Er drückte trotzdem ab.
Als der Schuss sich löste, schmetterte Glitt ihm das Handy ins Gesicht.
Schmerz schoss durch Vinces Gesicht und Kopf.
Durch Sues auch.
Scheiße, dachte sie.
Sie hört Glitt durch das Dröhnen das Schusses schreien.
Haben wir ihn getroffen?, wunderte sie sich.
Vince glaubte es jedenfalls. Trotz seiner Angst und des Schmerzes dachte er, dass er Glitt verletzt hatte, wenn auch nur am Bein. Er wollte noch einmal abdrücken, doch er konnte den Abzug nicht finden. Dann fiel ihm auf, dass seine Hand leer war. Er hatte die Waffe fallen lassen.
Ich werde sterben! Er wird …
Glitt schlug ihm erneut das Handy ins Gesicht.
Winselnd fiel Vince auf die Knie.
Au!, dachte Sue. Der Aufprall tat fast genauso weh wie der Schlag ins Gesicht.
Ich sollte mich aus dem Staub machen, bevor …
Sie spürte, wie sie hinauszugleiten begann.
Nein! Ich bleibe! Das darf ich nicht verpassen!
Vince kassierte einen Kniestoß ins Gesicht. Seine Nase brach, und der Kopf wurde nach hinten geworfen.
Sein Schmerz war Sues Schmerz.
Spring nicht raus!
Vince kippte nach hinten.
Halt dich fest! Bleib drin!
Er schlug mit dem Gesicht auf dem Teppich auf. In seinem Kopf blitzte es auf, als sei ein Knaller darin explodiert.
Sue stöhnte.
Vince nicht. Er lag ausgestreckt auf dem Teppich, der Körper schlaff, der Geist trüb. Er war sich weder Glitts Anwesenheit noch der Geschehnisse bewusst. Der Gedankenstrom war abgerissen. Es blieb nur eine traumähnliche Szene, in der er sich durch schlammiges Wasser kämpfte. Etwas war hinter ihm her. Etwas Schreckliches und Erbarmungsloses, das am Grund wohnte. Es stieg auf, um ihn zu holen. Kam immer näher. Er musste die Oberfläche erreichen. Dort würde er sicher sein. Doch er wusste, dass er keine Chance hatte. Jeden Moment würde es ihn an den Fußgelenken packen und hinabzerren …
Glitt hob seine Beine an den Knöcheln hoch.
In Vinces Traum wickelten sich Tentakel um seine Beine und begannen, ihn nach unten zu ziehen.
Er schrie auf.
Aber er blieb bewusstlos.
Sue achtete nicht länger auf seinen Traum, sondern konzentrierte sich auf das, was Glitt tat. Sie konnte nichts sehen, weil Vinces Augen geschlossen waren. Doch sie konnte alles spüren. Glitt schleifte ihn an den Füßen über den Boden.
Aus dem Gesellschaftszimmer hinaus und die Diele entlang.
Die Jacke seines Jogginganzugs war hochgerutscht. Seine nackte Haut rieb über den Teppich. Zuerst hatte es sich nicht schlimm angefühlt. Doch nun brannte es, als hätte der Teppich sich in ein glühendes Kohlenbett verwandelt.
Vince kümmerte es nicht.
Er war sich in seiner entsetzlichen Traumwelt des brennenden Teppichs nicht bewusst.
Es ist nicht die Haut an meinem Rücken, dachte Sue.
Trotz des Schmerzes lachte sie auf.
Und nicht mein Schmerz. Es trifft alles ihn. Ich sollte versuchen, es zu genießen.
»Du hast Neal ermordet, die dreckiges Schwein. Jetzt bekommst du es heimgezahlt.«
Vinces Körper bog um eine Kurve.
Wohin gehen wir?, fragte sich Sue.
Vinces Hüfte stieß gegen irgendetwas. Ein Türrahmen?
Sue wünschte, er würde die Augen öffnen.
Nicht weil sie wollte, dass sein Traum endete. Bis jetzt war er klasse. Die Kreatur zog ihn weiter hinab, und er wusste, er war verloren. In der Dunkelheit des schlammigen Grunds würde sie unvorstellbare Dinge mit ihm anstellen.
Sue versuchte herauszufinden, welche Dinge, doch Vince schien keine genaue Vorstellung davon zu haben. Er rechnete einfach mit dem Schlimmsten, und das Schlimmste war schrecklicher als alles, was er sich ausmalen
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