Der Geliebte
Michel war. Ich hatte mich bloß nicht zu fragen getraut, weil ich Angst hatte, entlarvt zu werden. Es bräuchte nur jemand einen dummen Witz zu machen, schon hätte mein Gesichtsausdruck mich verraten. Aber vielleicht, überlegte ich nun, fiel es ja erst recht auf, wenn ich nicht nachfragte. Schließlich fehlten ja seit Neuestem ein paar Arbeiter, die bisher immer dabei gewesen waren. Mich zu erkundigen, warum, wäre völlig normal.
Außerdem konnte ich meine Fragen auch unauffällig zwischen zwei andere, unbedeutende Fragen einschieben, so ähnlich wie Leute, die in der Videothek einen Porno zwischen zwei Familienfilme stecken.
Diese Taktik konnte ich auch bei Rita und Betty anwenden. Rita wäre von meinen neuen Bekannten wahrscheinlich noch am ehesten bereit, mir etwas über Peter und die Triebfeder seines Handelns zu erzählen. Und zu zweit, ohne Theo, war Betty vielleicht auch etwas gesprächiger.
Betty und Rita. Gleich nachher würde ich sie anrufen. Vielleicht konnte ich mich in den nächsten Tagen mal in typisch niederländischer Manier bei ihnen zum Kaffee einladen.
»Ich habe mit niemandem gesprochen«, sage ich.
Der Ermittler und der belgische Übersetzer sehen mich teilnahmslos an.
»Und … und ob ich den Bon mitgenommen habe, weiß ich nicht mehr.«
Der Dolmetscher beugt sich über den Tisch zu mir vor. »Ich würde Sie bitten, noch mal gut nachzudenken, wie spät es war, als Sie den Supermarkt verließen, und wann Sie zu Hause ankamen.«
Ich schüttele den Kopf. »Ich weiß es nicht, wirklich nicht.«
»Zweiundzwanzig Uhr?«
Verwirrt blicke ich auf. »Vielleicht. Zehn … ja, so gegen zehn, denke ich.«
»Wer befand sich zu diesem Zeitpunkt bei Ihnen zu Hause?«
»Mein Mann Eric und die Kinder, Bastian und Isabelle.«
»Was haben Sie getan, als Sie wieder zu Hause waren?«
»Ich bin ins Bett gegangen.«
»Gehen Sie öfter so früh schlafen?«
»Ja.«
Der Dolmetscher verzieht das Gesicht und spielt mit seinem Kaffeebecher. Er sieht mich eindringlich an.
Mir ist übel, und es wird von Sekunde zu Sekunde schlimmer. Es gibt hier kein Fenster, das Neonlicht tanzt mir vor den Augen, und der widerwärtig süßliche Kaffeegeruch schnürt mir die Kehle zu.
»Wann haben Sie Ihr Portemonnaie zuletzt gesehen?«
Eine Eisenkralle schließt sich um meinen Hals.
39
Louis und die beiden Antoines wussten nicht, wo Bruno und Michel waren, und es interessierte sie auch nicht. Ich hatte mich nach den beiden erkundigt, als Louis gerade am Waschbecken gestanden hatte und mein Blick an seiner verstümmelten Hand hängen geblieben war. Es dauerte einen Moment, bis ich es selbst merkte. Sogleich wandte ich mich wieder beschämt dem fast fertigen Salat zu. Es war bestimmt unhöflich, diese Hand so anzustarren.
Nicht nur hatten sie keine Antwort auf meine Frage, sondern unser dezimierter Arbeitstrupp betrachtete Bruno und Michel sowieso als arrogante Rotznasen, mit denen man lieber nicht zusammenarbeitete und privat möglichst wenig oder gar keinen Kontakt hielt. So explizit wurde es zwar nicht ausgesprochen, aber das Naserümpfen und Gemurr erübrigte nähere Erläuterungen.
»Die werden wohl auf irgendeiner anderen Baustelle sein«, hatte Louis gemurmelt.
»Oder im Knast«, hatte Antoine hinzugefügt.
Es hatte mir auf der Zunge gelegen, zu fragen warum, aber genau in dem Moment war Eric aufgekreuzt, sodass ich die unausgesprochene Frage in einem nervösen Hüsteln erstickt hatte.
Wir saßen in Bettys Küche, zwischen uns eine Schale mit süßen Leckereien und zwei Tassen Kaffee mit Likör und Schlagsahne. Wir waren in ein Gespräch über die chambres d’hôtes verwickelt. Betty hatte ein neues Brillengestell mit schwarzen, roten und braunen Punkten, das in ihrem blassen Gesicht kaum weniger auffiel als das knallblaue Vorgängermodell. Sie trug einen Tigerstreifenpullover und hielt ihr dünnes, braunes Strubbelhaar am Hinterkopf mit einer Spange zusammen, die ein ebensolches Muster aufwies.
»Ich gebe dir mal die Telefonnummer von den Leuten.« Sie stand auf, um einen Stift und einen Notizblock von der Anrichte zu nehmen. »Die setzen dich auf ihre Webseite und wollen dann von allen Buchungen, die über sie laufen, fünfzehn Prozent.«
»Und kümmern sie sich auch um die Bezahlung?«
»Nein, das muss man selbst machen. Sie bringen nur Angebot und Nachfrage zusammen. Der Vorteil ist, dass sie mehr als zehntausend chambres d’hôtes auf einmal anbieten, weshalb viele Urlauber
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