Der Gentleman
Robert langsam und mühselig die Augen öffnete, von weit, sehr weit her.
»Sei gegrüßt Ariadne«, sagte er mit leiser und dennoch schwerer Stimme.
»Heinz!« Es war ein kleiner, banger Schrei. »Heinz, was ist los mit dir?«
Es gelang Lucia, sich in Bewegung zu setzen, um zu ihm zu eilen.
»Was soll los mit mir sein, Ariadne?«
»Heinz, kennst du mich nicht mehr?«
»Doch, Ariadne.«
»Ich bin Lucia, und nicht … wie sagst du?«
»Ariadne.«
Lucia geriet in Gefahr, sich in eine Megäre zu verwandeln.
»Wer ist dieses Weib? Eine Bielefelderin?«
»Eine Griechin älteren Semesters«, sagte Robert, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich sehe die Schnur in deiner Hand, den Faden, und erkenne dich daran, Ariadne: am berühmten Ariadnefaden, verstehst du?«
Lucia stutzte. Es dämmerte ihr, davon schon einmal gehört zu haben, im Gymnasium. Ariadne, eine Sagengestalt der griechischen Mythologie …
»Heinz, ich sorge mich zutiefst um dich, und du …«
Robert Sorant alias Heinz Robs schnitt allen Debatten den Faden ab.
»Komm an mein Herz, Lucia!« rief er mit weit ausgebreiteten Armen, und sie ließ sich das nicht zweimal sagen.
Nach den üblichen zehn Minuten stürmischer Begrüßungszärtlichkeiten saßen sie nebeneinander auf der Couch, Lucia mit zerwühlten Locken, Robert mit schiefem Schlips.
Robert sprach von den Zeitschriftenköpfen. Er war nämlich zu der Überzeugung gelangt, daß eine Zeitschrift ruhig zwei Köpfe besitzen könne – einen für die Inlandsausgabe und einen ganz repräsentativen für die Auslandsausgabe. Bestärkt war diese Überzeugung durch die Aussicht geworden, daß ein zweiter Entwurf noch einmal eine weitere Woche ›Frühling in Altenbach‹ bedeutete.
Lucia hörte ihm zu, dann unterbrach sie ihn plötzlich: »Heinz, wie kommst du überhaupt zu diesen Zeitschriftenköpfen? Was hast du damit zu tun?«
»Ich werde Chefredakteur.«
»So über Nacht?«
»Nicht ganz. Verhandlungen mit dem Verlag fanden früher schon einmal statt.«
»Aber du bist doch Komponist und nicht Journalist oder Literat?«
Da steckte er nun wieder einmal in der Patsche.
»Sieh mal«, versuchte er ihr zu erklären, »auch Komponisten können schreiben. Richard Wagner etwa …«
Lucia winkte ab.
»Du bist nicht Richard Wagner, du bist Heinz Robs. Ich traue dir zu, daß du Musik machen kannst, aber schreiben …«
Sie brach ab mit einer Miene, die skeptisch genug war, um Worte überflüssig zu machen.
»Schreiben, meinst du, kann ich nicht, Lucia?«
»Nein.«
»Du denkst schon wieder an deinen Robert Sorant?«
Lucia schwieg. Keine Antwort war auch eine Antwort.
»Der für dich diesbezüglich der Maßstab aller Dinge ist, Lucia«, fuhr Robert fort.
»Heinz, wir haben darüber schon mehrmals gesprochen …«
»… und uns niemals einigen können, sag's nur ruhig, meine Liebe.«
»Robert Sorant ist …«
»… ein Genie, ich weiß, und ich bin dagegen ein Würstchen, sag's nur ruhig.«
Robert machte ein beleidigtes Gesicht.
Lucia schüttelte den Kopf.
»Ich sage das nicht und habe es auch noch nie gesagt. Du bist kein Würstchen, sondern Heinz Robs, ein vielversprechender Komponist.«
Robert gab einen undefinierbaren Brummlaut von sich.
»Komm«, bat ihn Lucia, »mach wieder ein anderes Gesicht, sei nicht beleidigt.«
»Ich bin nicht beleidigt.« Robert lachte plötzlich erheitert. »Ich bin das viel weniger, als du denkst.«
Froh darüber, ihn wieder soweit zu haben, wechselte Lucia rasch das Thema, um einen Rückfall zu verhindern.
»Ich möchte von dir eins wissen, Heinz, ich wollte dich das schon zu allem Anfang fragen …«
»Was?«
»Wie bist du eigentlich in die Wohnung gekommen?«
Robert erklärte es ihr, und sein Bericht schien sie außerordentlich zu belustigen, so daß er sich, als er schloß, genötigt sah, sie zu ermahnen, indem er sagte: »Du solltest nicht lachen, sondern eher über dich selbst weinen. Warum hast du nicht abgesperrt?«
»Damit du hereinkonntest.«
»Mach keine Witze. Du hättest auch irgendeinen anderen in der Wohnung vorfinden können, einen Gangster. Und was wäre dann gewesen?«
»Er hätte mich vergewaltigt.«
»Dich scheint das zu amüsieren, ich finde das gar nicht so lustig. Hör also endlich auf mit deinen Späßen. Die ganze Geschichte ist zu ernst dazu. Frag den Briefträger.«
»Ach ja, was wollte der eigentlich bei mir.«
»Er hat ein Einschreiben für dich.«
»Von wem?«
»Das sagte er nicht. Er bringt es morgen
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