Der Gesandte - Mein Leben fuer Palaestina Hinter den Kulissen der Nahost-Politik
nahtlos in den Kontext des Holocausts fügte, der wiederum mit den Reizwörtern »Auschwitz« und »Liquidation« beschworen wurde. Eine Strategie bestand also darin, die düsterste Vergangenheit als Modell für ebenso düstere Zukunftsvisionen zu benutzen und das Oslo-Abkommen als Vorboten der drohenden Auslöschung Israels zu interpretieren. Gleichzeitig aber bediente man sich eines weiteren Arguments, das die Holocaust-Assoziation völlig außer Acht ließ: Es sei ein frevelhafter Verrat an der historischen Bestimmung der Juden, Land an Nichtjuden abzutreten, das Gott dem Volk Israel verheißen und mithin zum ewigen Besitz gegeben habe. Die
irrationale Dimension springt hier noch deutlicher ins Auge, denn die Bezugnahme auf einen göttlichen Willen verwandelt einen Flecken gewöhnlicher Erde buchstäblich in heiliges Land, das mit allen Mitteln gegen profane Rechtsansprüche verteidigt werden muss. Die zweite Strategie bestand mithin darin, aus einem höheren Recht eine unbedingte politische Verpflichtung abzuleiten.
Man bewegt sich hier offenkundig in einem Bereich, der sich jeder rationalen Auseinandersetzung entzieht, in dem gewissermaßen Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt werden, um einen Zustand zu legitimieren, der sich im Licht der Vernunft betrachtet als ungerecht, ja, unheilvoll darstellt. Wer, wie die israelischen Friedensfreunde, mit sachlichen Argumenten dagegenzuhalten versucht, hat keine Aussicht auf Erfolg, weil die neuen Zionisten sich eines Arsenals von Bildern und Assoziationen bedienten, die brisanteste Seelenzustände ansprechen. Sie trafen mit ihrer Propaganda die beiden wunden Punkte der israelischen Mentalität, den der Vernichtungsangst und den der Daseinsberechtigung. Gekoppelt riefen beide Argumente die Vorstellung einer Verschwörung gegen Israel hervor, und in dem Maße, in dem sich diese Vorstellung durchsetzte, wurden die Stimmen der Vernunft in Israel leiser.
Noch gab es sie ja, die Stimmen der Vernunft, noch verschafften sie sich auch Gehör. So versammelten sich am Abend des 4. November 1995 rund 150 000 Menschen in Tel Aviv zu einer Friedenskundgebung auf dem Platz der Könige Israels, auf der auch Rabin als Redner auftrat. Es ist sicherlich kein Zufall, dass der Mörder diesen Augenblick wählte, in dem sich der Verständigungswille vieler Israelis so machtvoll aussprach. Jedenfalls lauerte er Rabin nach dieser Demonstration auf und ermordete ihn mit drei Schüssen in den Rücken.
Wir – ich und etwa dreißig weitere Führer der PLO, Zentralkomiteemitglieder, Funktionäre, Sicherheitsleute – hatten
uns gerade zu einer Besprechung in Arafats Büro in Gaza getroffen, als uns die Nachricht von der Ermordung Rabins erreichte. Arafat reagierte für einen Moment fassungslos und brach dann in Tränen aus. Nie hatte ich Arafat so weinen gesehen. Er weinte hemmungslos. Die Tränen liefen ihm über die Wangen und blieben in seinen Bartstoppeln hängen oder tropften von seinem Kinn, und obwohl er der Einzige war, der weinte, schämte er sich dafür nicht, zog sich nicht zurück, weinte vor allen Leuten, unbekümmert darum, dass die Anwesenden ihn beinahe als höheres Wesen betrachteten, jedenfalls nicht als einen gewöhnlichen Sterblichen ansahen. Es schien, als könne er nie wieder aufhören zu weinen. Ich war tief gerührt. Allein für diese Tränen hatte Arafat schon den Friedensnobelpreis verdient.
Am liebsten hätte ich ihn umarmt und getröstet, was die öffentliche Situation natürlich nicht zuließ, was aber auch Unmut heraufbeschworen hätte, denn abgesehen davon, dass alle bedrückt waren, alle besorgt waren, reagierten nicht wenige auf Arafats Tränen verständnislos, ja, ausgesprochen verärgert. »Wie kannst du nur um Rabin weinen?«, bekam er zu hören. »Ich habe meinen Partner für den Frieden verloren«, hielt Arafat diesen Leuten entgegen. »Ich weiß, was ich sage. Es kommen schwere Zeiten auf uns zu.« Dann schwieg er und beteiligte sich auch nicht an der erregten Diskussion, die Rabins Tod unter den PLO-Führern an diesem Abend auslöste.
Im ersten Moment war unsere größte Sorge, der Täter könnte ein Palästinenser sein. Das hätte all unsere Hoffnungen im Nu zunichtegemacht. Die ersten Bilder des verhafteten Mörders schienen unsere Befürchtungen sogar zu bestätigen, denn der Mann sah tatsächlich wie ein Araber aus; umso erleichterter waren wir, dass sich der Attentäter als ein Jude aus dem Jemen herausstellte. So konnte Arafat es wagen, eine
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