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Der Hahn ist tot

Der Hahn ist tot

Titel: Der Hahn ist tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Bratwurst und ihr selbst die kopierte Brahmskassette überreichte, umarmte sie mich erstmalig nach so vielen Jahren feundschaftlicher Verbundenheit, die nie in schulterklopfende Vertraulichkeit ausgeartet war.
    »Frau Hirte, Sie sind die einzige aus der Versicherung, die ich vermissen werde. Die ganze Zeit haben Sie sich liebevoll um mich und meinen Hund gekümmert, heute habe ich auch mal etwas für Sie!«
    Ein bißchen geheimnisvoll führte sie mich ins Schlafzimmer und hob ein Schmuckkästchen aus dem Kleiderschrank.
    »Alles, was ich zu vererben habe, kriegt natürlich meine Tochter. Aber aus bestimmten Gründen möchte ich ihr dieses eine Stück nicht geben. Das schenke ich Ihnen«, und sie steckte mir feierlich eine Brosche an die Bluse. Es war ein altes Erbstück, das Profil eines Hermes aus schwarzem Obsidian geschnitten und von einem feinen Goldrand umrahmt.
    »Sie sind verschwiegen, Frau Hirte, das weiß ich seit vielen Jahren. Niemand kennt den Vater meiner Tochter, und ich habe auch keinerlei Kontakt mehr zu ihm. Als das damals passierte, war er siebzehn und ich schon Ende Zwanzig. Ich konnte natürlich keinem erzählen, daß ich mich mit einem Schüler eingelassen hatte, und an Heirat war nicht zu denken. Ich habe ihm nie etwas von der Schwangerschaft mitgeteilt und habe damals meine Heimatstadt sofort verlassen. Diese Brosche hier ist von ihm. Er hat sie seiner Mutter einfach geklaut. Nie habe ich sie zu tragen gewagt, und ich möchte eigentlich auch nicht, daß meine Tochter sie trägt. Ich habe dieses Kind allein aufgezogen und ernährt. Wenn sie diese Brosche trüge, würde ich wahrscheinlich leiden.«
    Ich wollte das erinnerungsträchtige Stück nicht annehmen.
    »Doch«, sagte Frau Römer, »meiner Tochter gefällt sie gar nicht. Lassen Sie mir doch die Freude!«
    Mit gemischten Gefühlen ließ ich also den Schmuck an meiner Bluse baumeln, denn die feine Seide wurde durch das schwere Material arg malträtiert. Ob auch Frau Römer berechnend war? Denn auf die geplante Amerikareise konnte sie den Dieskau nicht gut mitnehmen.
     

 
6
     
    I n der letzten Zeit beobachtete ich an mir, daß das überwältigende jugendliche Gefühl des Verliebtseins fast unmerklich schwächer wurde. Schwer zu sagen, ob ich eine gewisse Erleichterung darüber empfand, daß meine Gedanken nun nicht mehr so ausschließlich von diesem großartigen Thema blockiert wurden, oder ob ich traurig war über die zu erwartende Leere des Alters. Aber seltsamerweise rückte etwas Neues ebenso gleitend, schleichend in mein Halbbewußtsein vor, wie die Liebe sich wegzustehlen schien. Das drohende Vakuum des Liebesverlustes wurde dadurch kompensiert.
    Es ist nicht leicht, die Anfänge dieser Wahrnehmung plausibel darzustellen: Zum ersten Mal empfand ich auf dem Friedhof jenes phantastische Gefühl der Macht. Später ertappte ich mich, daß mich mitten auf der Straße eine leichte Euphorie überkam: Niemand kann mir ansehen, daß ich zwei Menschen auf dem Gewissen habe und noch weitere umbringen könnte, wenn ich nur wollte.
    Im Autoradio hörte ich Lotte Lenya das Lied von der Seeräuberjenny singen: »Meine Herren, heute sehen Sie mich Gläser abwaschen, und ich mache das Bett für jeden ...«, Jenny hatte sich gerächt für alle Demütigungen. »Und Sie wissen nicht, mit wem Sie reden...«, sang Lotte Lenya mit überzeugender Eindringlichkeit. Auch bei mir wußte niemand, mit wem er redete. Der Chef ahnte nicht, daß er einer Mörderin immer neue unangenehme Aufträge zuschob, Arbeiten, für die er im Grunde zu faul war. Wenn ich in meinem abgelegenen Bürozimmer saß und nach dem gemeinsamen Essen in der Kantine vor meinem geistigen Auge die fressenden und schwafelnden Kollegen Revue passieren ließ, dann rollte so mancher Kopf, und ich sagte bloß »hoppla!«
    Macht über andere Menschen war fast besser als Liebe und im Grunde das Gegenteil davon. Wer liebt, ist machtlos, ohnmächtig und abhängig. Und doch wollte ich meine Verliebtheit noch nicht so ohne weiteres streichen, zu stark hatte sie in mein Leben eingegriffen, mir Jugendlichkeit, Schwung und Tatkraft verliehen, ein neues Körpergefühl und eine andere Selbsteinschätzung. Ich wollte weiterhin darum kämpfen, ich wollte noch einmal so einen heiterunbeschwerten Tag erleben wie damals auf unserer Wanderung durch den Odenwald.
    Ich tat ein Gelübde, ich betete sogar, obgleich mir mein Glauben von einer unbarmherzig frommen Mutter frühzeitig ausgetrieben worden war. »Falls es

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