Der Hahn ist tot
sollen.
Vivian! Ich führte ein innerliches Zwiegespräch mit ihr, wobei ich mich seltsamerweise in Beates Rolle versetzte.
»Ganz richtig, Vivian«, sagte ich zu ihr, »fahr nach Amsterdam! In deinem Alter ist es viel angemessener, mit Gleichaltrigen ausgelassen zu sein, als mit einem doppelt so alten Lehrer durch die Vogesen zu stapfen. Überhaupt, laß die Männer zappeln! Laß sie leiden! Wer weiß, wie du selbst noch an ihnen leiden mußt!«
Ich sah Vivians Schicksal vor mir: Sie war kein mütterlicher Typ, diese ausgeflippte Kunststudentin. Sie würde wahrscheinlich keine bürgerliche Heirat anstreben, keine Kinder haben. Sie würde eine alte Schachtel werden wie ich, wenn auch mit einer weit bewegteren Vergangenheit.
Auf einmal schien mir Vivian keine Gefahr mehr zu sein, ich wunderte mich, warum ich je mit dem Gedanken gespielt hatte, sie aus dem Weg zu schaffen.
Ohne auf Witolds Rückruf zu warten, trug ich dem Chef meine Urlaubswünsche vor: Nächste Woche wollte ich frei nehmen, um mit Freunden im Elsaß zu wandern.
»Geht nicht, Frau Hirte«, sagte er bestimmt, »da sind doch Herbstferien, und Herr Müller und Frau Flori sind dann im Urlaub. Außerdem wissen Sie doch selbst am besten, daß wir in der nächsten Woche mehrere Terminsachen fertig kriegen müssen. Im September habe ich Ihnen nahegelegt wegzufahren, da wollten Sie ja nicht. Sorry!«
Damit war die Sache für ihn abgetan, er nahm seine Arbeit wieder auf und erwartete meinen Abgang. Ich gehorchte aus Gewohnheit.
In meinem Zimmer überkam mich die Wut. Jahrelang hatte ich unentgeltlich und jederzeit Überstunden gemacht, hatte nie eigene Wünsche geäußert, hatte dem Alten stets den Rücken frei gehalten und ihn auf loyale Weise unterstützt. Ein einziges Mal wollte ich auch etwas - da wurde es natürlich versagt. Was sollte eigentlich sein fortlaufend liebedienerisches Geschwätz? Es war sein Mittel, mich rücksichtslos auszubeuten.
Ich malte mir genießerisch aus, wie der Chef in sein Zehn-Uhr-Brötchen beißen würde, das immer in seiner rechten, untersten Schreibtischschublade lagerte. Rattengift! Qualvoll würde er eingehen. Aber im Falle seines Ablebens bekam ich erst recht keinen Urlaub, weil man mir dann alle seine unerledigten Aktenberge zur Bearbeitung zuschieben würde.
Ich suchte ihn ein zweites Mal auf.
»Wenn Sie so wenig auf meine Interessen eingehen, wo ich mich seit vielen Jahren für die Ihren stark machte, dann werde ich meine Stellung hier kündigen«, es gelang mir, ganz kalt und prononciert zu sprechen, obgleich ich vor Mordlust schäumte.
Der Chef erschrak richtig.
»Um Gottes willen, Frau Hirte! Es läßt sich sicher ein Weg finden, Sie haben mich mißverstanden! Bisher bin ich noch allen Angestellten großzügig bei der Urlaubsregelung entgegengekommen!«
Ja, dachte ich, wenn man seinen Plänen zustimmte, hat er generös amen gesagt.
»Frau Hirte, das ist nicht Ihr Ernst mit der Kündigung! In letzter Zeit ist einiges auf Sie zugekommen; ich habe vom Tod Ihrer Freundin gehört. Sie kriegen diesen Urlaub auf alle Fälle, und wenn ich persönlich einen Teil Ihrer Arbeit übernehmen müßte!«
Das war zwar geschafft, aber ob aus der Wanderung überhaupt etwas wurde? Ob Witold am Ende zwar mit seinen Freunden wanderte, mir jedoch absagte? Aber eigentlich hätte er dann gar nicht davon anzufangen brauchen.
Ein weiteres Problem beschäftigte mich. Diese anderen Freunde und Kollegen von Witold -, ob die mich akzeptierten? Und schließlich machte mir das Wandern an und für sich auch Sorgen; ich war unsportlich und untrainiert, vielleicht auch die Älteste in diesem Verein. Wenn das eine Gruppe ehrgeiziger und ausdauernder Athleten war, denen es gar nichts ausmachte, täglich acht Stunden in zügigem Tempo über Berg und Tal zu marschieren, womöglich mit einem schweren Rucksack auf dem Buckel, konnte ich da mithalten? Nein!
Ich hoffte inbrünstig, daß Ernst Schröder mit von der Partie wäre; erstens, weil ich ihn als einzigen von Witolds Freunden kannte, zweitens, weil ich ihn als korpulent, bequem und phlegmatisch in Erinnerung hatte, vielleicht sogar älter als ich. Mit diesem freundlichen Dicken im Gefolge würde wahrscheinlich kein Überlebenstraining angestrebt.
In Gedanken beschäftigte ich mich hoffnungsvoll mit meiner Wanderkleidung. Ein bißchen kam es mir vor, als hätte ich den lieben Gott erfolgreich erpreßt und es stünde mir eine gute und fröhliche Zeit bevor.
Die Erfolgsmeldungen häuften
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