Der Herr der Falken - Schlucht
Entscheidung liegt nicht bei ihr. Der Wille ihres Vaters zählt.« Cleve seufzte. »Sie wurde entführt. Doch wer profitiert von ihrem Verschwinden?«
»König Sitric nimmt an, daß Ragnor von York dahinter steckt«, entgegnete Bjarni. »Da König Olric von Danelagh sie mit seinem Sohn vermählen will.«
Cleve konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Er hatte Rollo berichtet, was Chessa diesem Ragnor angetan hatte. »Ich kann mir nicht vorstellen, Sire, daß Olric je die Absicht hatte, mit Sitric Verhandlungen zu führen, da er wissen mußte, daß sie zu nichts führen würden. Deshalb ließ er sie entführen. Er will sie mit Ragnor verheiraten.«
Wilhelm, der von den Neuigkeiten hätte tief betroffen sein müssen, warf mit heiterer Stimme ein: »Ragnor von York hat sie also entführt. Lothar der Kahle, einer von König Karls Ministem, berichtete ebenfalls, daß Olric die Prinzessin für seinen Sohn ausersehen hat. Und König Karl ist an einem Bündnis mit Irland interessiert, obgleich sein ältester Sohn erst elf ist.«
»Davon hast du mir nie ein Wort gesagt«, wandte sich Rollo vorwurfsvoll an seinen einzigen Sohn.
Wilhelm hob die Schultern. »Die Franken wünschen, daß einer von Sitrics Söhnen in das fränkische Königshaus einheiratet. An der irischen Allianz mit der Normandie, die durch Chessa zustande käme, besteht wenig Interesse. Deshalb würde es mich nicht wundern, wenn König Karl König Olric und Ragnor darin unterstützt hätte, das Mädchen zu entführen.«
»Dieses Mädchen ist deine Braut, Wilhelm.«
»Ist das denn wirklich so wichtig, Vater? Sie wird nicht entehrt. Eines Tages ist sie Königin. Ich lebe weiter wie bisher. Ich habe einen Sohn, den meine geliebte Margaret mir schenkte. Eilder wird mein Nachfolger. Ich brauche nicht noch mehr Söhne.«
Herzog Rollo blickte seinen Sohn an, der nun dreißig Jahre alt war. »Du bist ein Dummkopf. Du liebst eine verstorbene Frau so sehr, daß du den Fortbestand der Dynastie in Gefahr bringst. Ich frage mich, wo du deinen Verstand gelassen hast.«
Cleve, der das Aufflammen alter Streitigkeiten fürchtete, räusperte sich. »Ich mache mich auf die Suche nach ihr.«
»Ja«, nickte Rollo. »Bringe sie nach Rouen. Wilhelm wird seiner Pflicht nachkommen, sie heiraten und ein Dutzend Söhne mit ihr zeugen. Unsere Linie wird nicht aussterben, nur wegen deiner unsinnigen Liebe zu einer Toten.«
Cleve blickte Wilhelm von der Seite an.
Wilhelm, wissend, daß er sich beugen mußte, nickte bedächtig. »Ja, Cleve, bring sie nach Rouen. Die Sache ist ausgehandelt, und ich halte mein Wort.«
»Merrik wird das Abenteuer genießen«, schmunzelte Cleve.
»Und ich auch«, ließ Laren sich vernehmen, die hinter ihm stand.
»Papa«, rief Kiri und streckte die Arme nach dem Vater aus.
Es war sehr dunkel. Chessa hörte die Gespräche der Männer, die draußen über ihren Rudern gebeugt saßen. Sie klagten, weil der Wind sich gelegt hatte, und sie sich in die Riemen legen mußten, sie murrten, daß Ragnor sie so gnadenlos zur Eile antrieb. In vier Tagen wollte er York erreichen. Bald würden sie den Kanal erreichen, sich nordwärts halten, vorbei an Ostanglien, in die Nordsee segeln und York erreichen. Dann würde sie fliehen.
Ob Cleve schon wußte, daß sie entführt worden war? Ob er sich Sorgen um sie machte? Ob er je an sie dachte, so wie sie an ihn? Sie sah sein ebenmäßig geschnittenes Gesicht deutlich vor sich, sein goldblondes Haar, sein goldbraunes und sein blaues Auge. An Wilhelm oder Herzog Rollo verschwendete sie keinen Gedanken.
Seufzend zog sie die Wolldecke enger um sich. Wie in den vergangenen drei Nächten fürchtete sie, Ragnor könne sein Wort brechen, sich auf sie stürzen und ihr Gewalt antun. Selbst Kerek würde ihn nicht davon abhalten können, wenn er dazu entschlossen war. Aber Kerek würde versuchen, ihr zu helfen, davon war sie überzeugt. Sein Gesicht hatte schon viele Falten, war von Wind und Wetter gegerbt, doch er war stark wie ein junger Krieger. Er schien ein gutes Herz zu haben und einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Sie überlegte verzweifelt, wie sie ihn überreden konnte, ihr zur Flucht zu verhelfen. Eins war klar: Diesen Ragnor konnte er nicht ausstehen.
Kerek hatte sich in den letzten drei Tagen häufig in ihrer Nähe aufgehalten. Er brachte ihr Essen und Wasser, er redete mit ihr, wenn auch etwas unbeholfen und scheu. Er war schließlich ein einfacher Mann und sie eine Prinzessin.
Dabei war sie nur eine
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