Der Herr der Falken - Schlucht
auftauchte.
Alles wartete stumm. Chessa stand an der Öffnung des Frachtraums und betrachtete die Männer auf ihren Seekisten, die gespannt über ihren Rudern gebeugt saßen. Sie hatten aufgehört zu rudern. Alle beteten stumm und inständig zu Thor und Odin.
Ragnors Schiff lag vor der Küste von Ostanglien. Kerek hatte soeben berichtet, daß Ragnor betrunken sei. Er lag unter seinem Ruder und war vor Angst zu nichts anderem mehr in der Lage, als Met in sich hineinzuschütten. Kerek hatte ihr zugeraunt, der Schiffsführer Torric habe Befürchtungen, ob sie den nächsten Morgen noch erleben würden. Eine solche Ruhe vor dem Sturm habe er erst einmal in seinem Leben vor der Westküste Norwegens erlebt, damals war die Luft jedoch nicht schwer und schwül gewesen, sondern es herrschte Eiseskälte, so daß jedem Mann, der ins Meer gespült wurde, auf der Stelle das Herz vor Kälte stehenblieb.
Torric war damals ein Bürschchen von zehn Jahren, als er und ein Gefährte es schafften, das Boot bei den Felsklippen in der Nähe von Bergen an Land zu ziehen.
Nun trat Torric zu Kerek und Chessa. »Der Sturm bricht jeden Augenblick los«, murmelte er. Sie schwiegen - was hätten sie auch sagen sollen?
Da streckte Kerek den Arm aus. »Da vom! Schaut nur!«
schrie er aufgeregt. »Eine Insel. Ich bin ganz sicher. Wenn die Männer mit aller Kraft rudern, können wir sie erreichen. Dort wird es einen sicheren Hafen geben.«
»Ja«, entgegnete Torric nun mit Hoffnung in der Stimme. »Jetzt sehe ich sie auch. Die Götter haben sie dir gezeigt. Die Insel war vorher nicht da, das könnte ich beschwören.«
Chessa hörte stumm zu, wie Torric den Männern Befehle zuschrie, sich mit aller Kraft in die Ruder zu legen, um die Insel zu erreichen. Ansonsten müßten alle jämmerlich ertrinken.
»Das Gewitter steht direkt über der Insel. Dort regnet es schon stark. Die Blitze machen die Umrisse sichtbar. Geht unter die Plane, Prinzessin.«
»Nein, Kerek. Ich schaue zu. Kann ich irgendwie helfen?«
»Sorgt dafür, daß Ihr am Leben bleibt«, rief er ihr über die Schulter zu.
Sekunden später ergoß sich der Regen auch schon in Sturzbächen aus den schwarzen Wolken. Ein Mann wurde von einem haushohen Brecher ergriffen und über Bord gespült. Dann konnte man überhaupt nichts mehr sehen. Torric brüllte den Männer seine Befehle zu, sich noch mehr in die Ruder zu legen.
Habichtsinsel
»Herr, alle Boote sind an Land gezogen, vertäut und mit Planen bedeckt. Der Sturm kann uns nichts anhaben.«
Rorik Haraldsson, der Herr der Habichtsinsel, nickte und hob das Gesicht dem prasselnden Regen entgegen. Der Sturm brach mit einer Gewalt los, wie er es seit Jahren nicht erlebt hatte. Alle nötigen Vorkehrungen waren getroffen. Man konnte nur noch abwarten.
Er betrat das langgezogene Haus, in dem leichte Rauchschwaden hingen, da der Sturm zu sehr auf die Öffnung im Dach drückte. Rorik näherte sich seiner Gemahlin Mirana, die über einer Handarbeit gebeugt saß. Vermutlich nähte sie wieder an einem blauen Hemd für ihn, da sie vor geraumer
Zeit einmal erklärt hatte, Blau sei eine Farbe, die ihn stattlicher erscheinen ließ, als er eigentlich war.
Ihre Art, ihm zu schmeicheln und gleichzeitig einen kleinen Seitenhieb zu versetzen, gefiel ihm, und er liebte sie um so mehr. Mirana würde jeden töten, der ihm Schaden zufügen wollte, und auch jeden, der es wagen würde, ihre Insel, ihre Leute, ihre Kinder zu bedrohen. Er vertraute ihr blind. Sie hob den Kopf, ohne zu lächeln. Ihr Gesicht war bleich, und ihre Finger zitterten ein wenig.
Er hob eine Augenbraue. »Wieder was Blaues, Frau?«
»Was? Die Luft? Der Rauch kann nicht abziehen, wegen des Sturms... Ach, du meinst dein Hemd. Natürlich ist es blau. Die Farbe deiner Augen. Ich muß dir noch viele blaue Hemden nähen, bevor deine Augen hell und wäßrig werden, und ich vergesse, wie blau sie einst waren. Bei den Göttern, Rorik, man könnte meinen, Thor lädt seinen ganzen Zorn über uns aus.«
»Was hast du erwartet? Ich habe dich gewarnt - du darfst deine weiblichen Verführungskünste nicht haltlos an mir austoben. Die Götter mögen keine Frauen, die ihren Männern die Sinne rauben. Denn weil das Fleisch der Männer schwach ist, nehmen sie sich, was sie kriegen.« Er grinste unverschämt.
Sie sprang auf, warf das blaue Hemd achtlos weg und bearbeitete seine Brust lachend mit ihren Fäusten.
»Mama, hör auf! Du darfst Papa nicht weh tun.«
Mirana ließ von ihm ab und blickte
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