Der Herr der Unruhe
der Deutschen Wehrmacht in Polen vor acht Tagen war sein Freund wie vom Erdb o den verschluckt. Die Gründe ließen sich leicht erraten. Am 3. September hatten, wie kaum anders zu erwarten, Gro ß britannien und Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg erklärt. In der Wochenschau beschwor Mussolini mit g e schwellter Brust seinen eisernen Willen, Italien aus den Kampfhandlungen herauszuhalten. Trotzdem verhielt sich die faschistische Geheimpolizei auffallend nervös. In der Stadt waren einige Razzien durchgeführt und mehrere Pe r sonen verhaftet worden. Angeblich gehörten sie der oppos i tionellen Bewegung Giustizia e Libertà an. Aller Wah r scheinlichkeit nach hatte sich Bruno rechtzeitig in den U n tergrund geflüchtet, um dem Schicksal seiner Genossen zu entgehen.
Nicos Augen wanderten über die schwungvollen Buc h staben. In der schönen, fast wie Kalligrafie anmutenden Handschrift offenbarte sich Brunos ästhetische Seite, die er so mühevoll hinter der Fassade des ungestümen Kämpfers für »Gerechtigkeit und Freiheit« zu verbergen suchte. Die Mitteilung war kurz.
Nico!
Triff mich morgen um sechs Uhr früh am Torre Astura.
Der Späher vom Forte Sangallo
In glücklicheren Tagen hatte Nico mit dem »Späher vom Forte Sangallo« das Tyrrhenische Meer nach dem myth i schen Neptunia abgesucht. Die Identität des anonymen Schreibers stand darum für ihn außer Frage.
So verschwendete er auch keinen Gedanken an eine mö g liche Gefahr, als er am Sonntagmorgen im Sattel seines treuen Albino nach Süden ritt. Noch vor Sonnenaufgang hatte er sich auf den Weg gemacht. Die Strecke betrug u n gefähr zwölf Kilometer. Ob Bruno in Schwierigkeiten steckte?
Torre Astura war eine kleine mittelalterliche Festung, die ihren Namen einem trutzigen Turm verdankte, der aus ihren achteckigen Mauern aufragte. Bereits in der Antike hatte an gleicher Stelle ein Gebäude gestanden. Vermutlich konnte der Fremdenführer Bruno Sacchi einen langen Vortrag da r über halten, aber Nico wusste nur, dass hier einst Konradin von Hohenstaufen festgenommen worden war, um wenig später in Neapel enthauptet zu werden.
Im Licht der aufgehenden Sonne bot das Kap einen u n wirklichen Anblick. Es erhob sich aus der flachen Lan d schaft Latiums wie eine Vision, die jeden Moment in der leicht bewegten See zu entschwinden drohte. Die unve r putzten Steine von Turm und Mauern schienen zu brennen. Ein gemauerter Steg führte vom Ufer zur Insel hinüber. Der Torre gehört der Apostolischen Kammer und war der Ö f fentlichkeit nicht zugänglich. Warum hatte Bruno sich au s gerechnet diesen Treffpunkt ausgesucht?
Nico versteckte sein Motorrad in einem Waldstück etwas oberhalb des Torre und kehrte dann zu dem Feldweg z u rück, in den er von der Straße aus eingebogen war. Irgen d ein Bauer hatte hier Weizen angepflanzt. Seine Fingerku p pen strichen im Vorübergehen über einen beschädigten Traktorenanhänger hinweg, der einmal zum Pflügen b e stimmt gewesen war. Nun rostete das alte Arbeitstier vor sich hin, ein stählernes Skelett, dem Zeit und Frondienst das Rückgrat gebrochen hatten.
Nachdem er eine weitere Baumgruppe durchquert hatte, erreichte er endlich den Strand. Einige hundert Meter weit folgte er dem Küstenstrich bis zur Annunziate, einem ura l ten Kirchlein, das mit einer Hand voll weiterer Hüten auf der Halbinsel vor der eigentlichen Festung stand. Früher hatte es an dieser Stelle einen künstlichen Hafen gegeben, von dem zwei Becken noch sichtbar waren. Abgesehen von diesen stummen Zeitzeugen ließ sich jedoch niemand bl i cken. Hoffentlich war Bruno nichts zugestoßen. Nico wa n derte ein Stück in nördlicher Richtung und suchte die G e gend nach seinem Freund ab. Nichts.
Als sein Blick wieder zur Festung zurückkehrte, bemerkte er dicht über dem Wasserspiegel eine Öffnung, die wie das obere Ende eines Torbogens aussah. Bei Flut wäre sie ve r mutlich vom Wasser bedeckt und somit unsichtbar gew e sen. Plötzlich erschien in dem Durchlass ein Ruderboot. Sein Rumpf war hellblau, nur einen schmalen Streifen u n terhalb des Dollbords hatte sein Besitzer weiß gestrichen. Schnell glitt es aufs offene Meer hinaus. An den Riemen saß Bruno. Er arbeitete sich mit kraftvollen Schlägen durch die Dünung, bis er schließlich im Schatten des Steges das Ufer erreichte.
»Ich wusste, auf dich ist Verlass«, begrüßte er seinen Freund. Sie umarmten sich.
»An deiner Stelle wäre ich mir da nicht so sicher gew e sen.
Weitere Kostenlose Bücher