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Der Hexer und die Henkerstochter

Der Hexer und die Henkerstochter

Titel: Der Hexer und die Henkerstochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Pötzsch
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»Wahrscheinlich wird sie am Jüngsten Tag sogar mit allen Erzengeln reden dürfen. Hauptsache, sie lässt sie nachher in Ruhe.«
    Mit einem Mal ging ein Raunen durch die Menge. Simon blickte nach oben und sah, dass der Andechser Prior soeben den Balkon des kleinen Erkers betreten hatte. Im Gegensatz zum noch eingerüsteten Dach war dieser so wichtige Teil des Klosters bereits fertiggestellt.
    Mit erhabener Miene hob Pater Jeremias einen silbernen Gegenstand in die Höhe, und die Pilger auf dem Klostervorplatz fielen auf die Knie und senkten demütig ihr Haupt. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete Simon, wie die Alte neben Jakob Kuisl die Augen verdrehte und zur Seite kippte, wo ihr ebenso greiser Mann sie zärtlich auffing. Von anderswo waren spitze Schreie und vereinzelte Rufe zu vernehmen.
    »Die Heiligen Hostien! Jesus, Maria, die Heiligen Hostien! Gott segne uns!«
    Auch Simon und der Henker sanken auf die Knie. Der Medicus spürte, wie ihn angesichts der betenden Massen ein warmes Kribbeln durchlief. Seine Nackenhaare stellten sich auf, und seine Augen tränten im Dunst des Weihrauchs. Er war nie ein sonderlich gläubiger Mensch ge­wesen – im Gegensatz zu seiner Frau, die auch die Idee zu dieser Wallfahrt gehabt hatte. Doch nun, zwischen all den jungen und alten Menschen, die von weit her gekommen waren, um drei geweihte Oblaten in einem silbernen Gefäß zu betrachten, überlief auch ihn ein Schauer. Selbst Jakob Kuisl neben ihm schien ergriffen. Mit schmalen Augen sah der Henker hinauf zu dem Balkon, wo der Prior soeben die Worte der Segnung sprach.
    »Benedictat vos omnipotens Deus Pater, et Filius, et Spiritus Sanctus  … «
    Die Menschen sanken noch tiefer in den Staub, manche weinten, andere lachten hysterisch oder schlugen sich wie besessen auf Rücken und Brust.
    Nur Jakob Kuisl blickte noch immer wie gebannt hinauf zu dem Balkon.
    »Beeindruckend, nicht wahr?«, flüsterte Simon. »So viel Glauben, man könnte fast selbst …«
    »Kruzitürken, hör doch auf mit dem Schmarren!«, unterbrach ihn der Henker. »Ich weiß noch gut, wie die Katho­lischen mit ihren Spießen und Schwertern über die Magdeburger hergefallen sind. Da hatten die auch so ein Leuchten in den Augen, und von ihren Händen tropfte Blut. Wer beten will, soll das im Stillen in der Kirche tun und keinen Zinnober treiben wie auf einem Jahrmarkt.« Er deutete hinauf zur Monstranz, die der Prior noch immer wie ein göttliches Flammenschwert über sich hielt. »Jede Wette, dass die echten Hostien ohnehin nicht mehr dort drin sind.«
    Simon grinste. »Und ich habe schon geglaubt, Ihr seid vom Blitz der Erkenntnis getroffen worden.«
    »Was ich und Gott zu bereden haben, das machen wir ganz allein unter uns aus. Das kannst du mir …«
    Plötzlich ertönte aus der Nähe ein Schrei, der anders klang als das übliche fromme Rufen. Simon schreckte auf und sah zwei Männer, die sich durch die Menge drängten und sich ihnen langsam näherten. Flankiert wurden sie von vier Andechser Jägern, bewaffnet mit Spießen und Armbrüsten.
    Der fette Mann in ihrer Mitte war kein anderer als der Schon­gauer Bürgermeister. An seiner Seite ging sein Sohn, der beim Anblick des Henkers triumphierend grinste.
    Nun beschleunigten die beiden ihre Schritte, sie waren nur noch wenige Dutzend Meter von Simon und Jakob Kuisl entfernt.
    »Ha, Kuisl! Hab ich’s doch gewusst!«, rief Karl Semer so laut, dass sich viele der Wallfahrer nach ihm umdrehten. Selbst der Prior oben auf dem Balkon hielt kurz mit der Segnung inne.
    »Räudiger Henker!«, tobte der Bürgermeister. »Dein Kopf ragt aus der Menge wie ein Fahnenmast, du entkommst mir nicht. Ergreift den Kirchenschänder und falschen Mönch!«
    Entschlossen schoben sich die Büttel durch die protestierende Menge auf Simon und Jakob Kuisl zu.
    »Und jetzt?«, zischte der Medicus. »Ich hab Euch noch gewarnt, aber nein, Ihr konntet ja nicht hören!« Er deutete auf einige der Fenster im Nebenbau des Klosters, wo die bessergestellten Pilger untergebracht waren. »Die beiden Schreihälse müssen Euch von dort oben gesehen haben. Was um Himmels willen sollen wir jetzt tun?«
    »Was schon?« Der Henker drückte einige der umstehenden Wallfahrer zur Seite, so dass sich eine schmale Gasse bildete. »Wir nehmen die Beine in die Hand. Wollen doch mal sehen, wer hier schneller ist – der Schongauer Scharfrichter oder der fette Semer und sein krummbeiniger Sohn. Schließlich war ich schon Henker, als dieser

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