Der Himmel über der Heide (German Edition)
wurde.
Schweigen breitete sich im Raum aus. Lange dachte Kati nach, und sie war froh, dass Andi ihr Zeit ließ.
Als sie schließlich zu sprechen begann, sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. Ohne viel zu überlegen, erzählte sie Andi, wie schmerzhaft Jules Tod für sie gewesen war, wie sehr sie die Zwillingsschwester vermisste und wie sie seitdem mit ihrem eigenen Schicksal haderte. Sie gab ihm aber auch zu verstehen, wie ihr Jule in jenem Spätsommer seltsam fremd geworden war und dass sie das Gefühl gehabt hatte, ihre Schwester lege sich selbst Steine in den Weg.
Es war, als hätte sich eine Schleuse geöffnet. Irgendwie empfand Kati es sogar als tröstlich, in Andi jetzt nicht mehr den Feind zu sehen, der ihre Schwester in den Tod getrieben hatte, sondern einen Menschen, der durch den Verlust ebenso gelitten hatte wie sie selbst. Der womöglich die gleichen Ängste kannte und der nachvollziehen konnte, was Kati in der Zeit nach Jules Tod durchgemacht hatte. Auch für ihn war das Leben in jener Nacht stehengeblieben. Auch für ihn war es nicht einfach gewesen, wieder Fuß zu fassen und neu anzufangen.
«Wenn ich mir vorstelle», sagte sie kleinlaut, «dass ich mit meinen Anschuldigungen alles nur noch schlimmer gemacht habe … Es tut mir leid, ich habe dir wirklich Unrecht getan. Ich konnte einfach nicht –»
«Schon gut», unterbrach er sie.
Doch Kati fuhr unbeirrt fort: «Ich meine es ernst. Wenn ich gewusst hätte, dass ihr beide nicht mehr zusammen gewesen seid … wenn ich gewusst hätte, dass Jule …»
Mit Nachdruck wiederholte Andi seine Worte. «Ich sage doch, es ist gut, Kati.»
Sein Ton war ohne Groll. Er wirkte erschöpft und blickte Kati aus traurigen Augen an.
«Ich kann verstehen, dass es für dich so leichter war. Es hat dir sicher irgendwie geholfen, einen Schuldigen zu haben», fügte er erklärend hinzu. Dann verfinsterte sich seine Miene plötzlich. «Mir wäre es auch lieber gewesen, ich hätte Jule allein verantwortlich machen können für das, was passiert ist. Aber die Wahrheit ist viel komplizierter … Die Wahrheit ist doch: Ohne mich wäre sie noch am Leben und hätte sich niemals zu dieser … dieser Dummheit hinreißen lassen. Es quält mich, und ich werde mir nie verzeihen, dass ich es nicht geschafft habe, sie rechtzeitig aus der brennenden Werkstatt zu holen.»
Sein Blick hatte etwas Schmerzvolles, und doch spürte Kati darin auch eine gewisse Erleichterung.
Behutsam legte sie ihre Hand auf Andis Arm. «Du hast versucht, sie zu retten. Mehr konntest du nicht tun.»
Andi seufzte und fuhr sich durch die Haare. Ihm war deutlich anzusehen, wie sehr ihn die Erinnerung an jene Nacht bewegte.
«Manchmal», sagte er leise, «manchmal habe ich das Gefühl, den beißenden Geruch des Feuers immer noch in der Nase zu haben.»
Kati nickte.
«Ich weiß, was du meinst. Obwohl ich nicht dabei war, träume ich fast jede Nacht davon. Es ist dieser immer wiederkehrende Albtraum …»
Und plötzlich hatte sie ganz klar die nächtlichen Bilder vor Augen. In Kati stiegen Tränen auf. Wann endlich würde sie diesen Albtraum loswerden? Wie viele Jahre mussten noch vergehen, damit sie ihren Frieden mit der Vergangenheit machen konnte?
«Magst du mir davon erzählen?», fragte er vorsichtig. «Von deinen Albträumen?»
Bislang hatte Kati es nicht geschafft, mit irgendjemandem darüber zu sprechen. Simon hatte sie ein paarmal danach gefragt, wenn sie mitten in der Nacht schweißgebadet hochgeschreckt war. Doch sie hatte dann immer ausweichend geantwortet und die Frage als unangenehm empfunden.
«Naja», begann sie zögerlich, «sie kommen nicht jede Nacht, aber so ein, zwei Mal die Woche. Manchmal sehe ich die Bilder ganz genau vor mir. Da ist Rauch, viel Rauch. Und die Flammen züngeln an einer Mauer hoch und …» Sie schluckte. «Morgens wache ich dann immer mit dem gleichen, beklemmenden Gefühl auf. Ein Gefühl von Ohnmacht und Trauer.»
Andi hörte aufmerksam zu, als Kati die schmerzvollen Bilder beschrieb. Erst als sie länger schwieg und er all ihre Worte auf sich hatte wirken lassen, fragte er: «Hast du mal überlegt, dir Hilfe zu holen?»
Kati zuckte mit den Schultern. Natürlich hatte sie darüber nachgedacht, sich einem Psychologen anzuvertrauen. Vielleicht wäre das besser gewesen. Sie hatte schließlich ihre Zwillingsschwester verloren, und zwar unter höchst dramatischen Umständen. Aber dann hatte sie sich dagegen entschieden.
«Also, nein …
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