Der Jade-Pavillon
weinen, und kein Nutzen würde daraus entstehen.«
So war nun alles in Huili voll Trauer und Todesahnung, als Jian, noch immer in seinen seidenen Mantel gehüllt, seinen Vater begrüßen konnte. Tong Shijun kam aus dem Krankenhaus, sehr still und in sich versunken, denn er hatte eine Niederlage einstecken müssen und die Grenzen der traditionellen Medizin erkannt. Es war ein Patient mit langsamem Nierenversagen gewesen, und Tong hatte aus dem Erfahrungsschatz der chinesischen Medizin dem Kranken das Medikament Wenpi Tang gegeben, das aus einem Auszug aus Ginseng, Ingwer, Lakritz und Rhabarber bestand. Aber die Insuffizienz setzte sich fort, auf dem Bildschirm des Ultraschallgerätes zeigte sich eine Verschattung der linken Niere, die sich Tong nicht erklären konnte. Auch wurden die Schmerzen größer.
Tong fand in den weisen alten Büchern der chinesischen Medizin nichts, was auf seinen Patienten zutraf, und so entschloß er sich schweren Herzens, seinen Kollegen, den Chefarzt der Chirurgie, hinzuzuziehen. Er tat es ungern, denn die Tradition verbot, an einem menschlichen Körper herumzuschneiden, weil das immer eine Verstümmelung sei. Wie schwer eine Operation auf der Seele lastete, hatten die Eunuchen an den Kaiserhöfen bewiesen: Sie konservierten ihr abgeschnittenes Glied und nahmen es mit ins Grab, damit ihr Körper in der Ewigkeit wieder vollständig sei.
Aber die Neuzeit und die ungeheuren Fortschritte der westlichen Medizin überzeugten auch die traditionsgläubigsten chinesischen Ärzte. In den Großstädten war das Skalpell so wichtig geworden wie die Akupunktur; nur auf dem Land gab es noch die Heilkundigen, die ihre Essenzen, Pulver, Tabletten und Säfte aus Kräutern und tierischen Substanzen mixten.
Tong Shijun, der große Arzt von Kunming, der sonst seinen chirurgischen Kollegen höflich, aber mit spürbarer Herablassung grüßte und außerhalb der Klinik keinen Kontakt mit ihm pflegte, erschien zwei Stunden später, nachdem er seinen Nierenpatienten in die Chirurgie überwiesen hatte.
»Sehen Sie klarer?« fragte er, und der Chirurg antwortete ebenso kurz: »Ich sehe ganz klar.«
»Und was ist es?«
»Ein Nierentumor. Wir operieren morgen. Wir machen eine Nephrektomie. Hoffentlich haben sich durch Infiltration in die venöse Blutbahn noch keine Metastasen gebildet. Dann ist alles zu spät.«
Der Chirurg war ein noch junger Mann, hatte in Paris, München und zuletzt in Houston in Texas studiert und war so vertraut mit den besten Operationsmethoden. Er war deshalb auch gleich Chefarzt in Kunming geworden, was Tongs Schwiegersohn Wu in die Wege geleitet hatte. »Der Fortschritt kann vor China nicht stehenbleiben«, hatte dieser gesagt. »Traditionelle und moderne Methoden müssen Hand in Hand arbeiten.«
Tong nahm sich vor, nach der Operation gar nicht mehr zu fragen, ob es zu spät gewesen sei. Er wußte: Es war zu spät. Und diese Niederlage bedrückte ihn, und sein Gesicht hellte sich auch nicht auf, als er seinen Sohn Jian erblickte, der aus den Ferien zurückgekehrt war.
»Wie würdest du eine Niere behandeln?« fragte Tong plötzlich, nachdem sie zur Begrüßung einen Tee miteinander getrunken hatten.
»Was für eine Niere, Vater?«
»Eben eine Niere, die Schmerzen verursacht.«
»Zunächst eine Urinanalyse.«
»Sie hat eine Entzündung erwiesen. Weiter!«
»Ultraschall.«
»Er hat eine undeutliche Verschattung erwiesen.«
Jian sah seinen Vater nachdenklich an. »Eine Röntgenaufnahme.«
»Auf ihr hat sich auch nur diese Verschattung erkennen lassen.«
Jian schwieg einen Augenblick, und dann fragte er etwas, das wie eine Faust Tongs Magen traf: »Ist er tot, Vater?«
»Noch nicht.«
»Was heißt das?«
»Er wird morgen operiert. Ein Nierenkarzinom. Wenn es schon Metastasen gestreut hat, ist er so gut wie tot.« Tong starrte seine Tasse mit dem grünen Tee an. »Ich habe mich geirrt, Jian. Ich habe ihn falsch behandelt.«
»Es sterben jedes Jahr Millionen an Krebs, Vater. Trotz Operation und Bestrahlung, trotz der besten Chemotherapie und den neuesten onkologischen Erkenntnissen.«
»Seit fünftausend Jahren heilen wir in China mit der Natur. Auch du lernst es auf der Universität. Soll man das alles vergessen?«
»Denk an ein Wort von Deng Xiaoping: ›Es ist ganz unwichtig, ob eine Katze schwarz oder weiß ist, die Hauptsache ist, sie fängt Mäuse.‹ Das Alte bewahren und Neues hinzufügen, das ist die fundamentale Weisheit der chinesischen Wissenschaft.« Jian
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