Der Junge aus dem Meer
die Tür wieder zu. Er kam jetzt zu dem Abteil mit den Tänzerinnen. Der junge Herr Lüders kontrollierte im selben Augenblick den Messerwerfer, dessen Partnerin und den Jongleur, die mit zwei Requisiteuren und einem Garderobier zusammensaßen.
Aber der Mann mit den grüngrauen Eulenaugen blieb wie vom Erdboden verschwunden.
Erst im allerletzten Moment sprangen der Kommissar und sein Assistent vom Zug.
„Er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben“, knurrte Herr Michelsen. Er überlegte und guckte dabei regelrechte Löcher in den Fußboden. Die Polizisten standen währenddessen in ihren Lederjacken ein wenig ratlos um ihn herum.
Der Bahnhofsvorsteher mit seiner roten Mütze kam jetzt heran: „Wir müssen abfahren“, sagte er. Natürlich kannte er den Kommissar, und er konnte sich auch an seinen fünf Fingern abzählen, daß die Polizei irgend jemanden in diesem Zug gesucht hatte. Er wollte gerade sein Abfahrtssignal in die Luft heben, da rief Herr Michelsen plötzlich: „Noch eine Minute!“ Er war mit einem Schlag aus seinen Überlegungen aufgewacht und lief los. Der junge Herr Lüders folgte ihm wieder wie sein Schatten.
Als der Kommissar in den zweiten reservierten Waggon geklettert war, galoppierte er durch den schmalen Korridor direkt auf das Abteil der Chinesenfamilie Chang Fing Fu zu. Als er dort die Tür auf riß, kicherte und zwitscherte es zuerst wieder aus allen Ecken. Aber dann bückte sich Kommissar Michelsen und schaute unter die Bänke, und nun wurde es auf einmal still.
„Wir nur machen Spaß“, meinte der ältere Chinese mit den goldenen Schneidezähnen verlegen. „Mister Landauer uns sagen nur, wir wollen Spaß machen...“
„Kommen Sie schon!“ brüllte Kommissar Michelsen wieder einmal.
Die Hälfte der Chinesenfamilie, die auf der linken Bank gesessen hatte, war inzwischen aufgestanden, und jetzt konnte man sehen, was ihre Beine und Kimonos bis zu diesem Augenblick verborgen hatten: Der Mann mit den grüngrauen Eulenaugen und dem schwarzen Anzug lag unter der Bank auf dem Boden.
„Dieses Kichern und Lachen war doch nur fauler Zauber“, knurrte der Kriminalkommissar. „Daß mir das nicht gleich aufgefallen ist! Und jetzt machen Sie keine Schwierigkeiten, Herr Landauer. Die Fahrpläne sind bei der Bundesbahn die heiligen Kühe.“
„Sie haben ihn“, flüsterte Karlchen Kubatz aufgeregt, als zuerst der Mann mit den Eulenaugen aus dem Zug kletterte und hinter ihm Kommissar Michelsen zusammen mit dem jungen Herrn Lüders.
„Wir können aber jetzt wirklich’ nicht mehr warten“, stellte der Stationsvorsteher fest und schwenkte seine Signaltafel über der roten Mütze.
Der Zug begann schon, sich zu bewegen, da öffnete sich plötzlich noch das Fenster des Abteils der Familie Chang Fing Fu. Es füllte sich mit lauter freundlich lächelnden Chinesenköpfen, und der ältere Mann mit den goldenen Schneidezähnen rief: „Haben was vergessen, Mister Psycho!“ Gleichzeitig schob er eine dunkelbraune Ledertasche mit zwei Schlössern zwischen den Köpfen hindurch ins Freie und hielt sie in die Luft. „Was vergessen, Mister Psycho!“ rief die hohe Stimme noch einmal.
Der Kommissar und sein junger Assistent starteten im selben Bruchteil einer Sekunde. Aber der Kommissar mit seinen Einsdreiundneunzig war schneller. Als der Waggon mit der lächelnden Familie Chang Fing Fu gerade in der Höhe der Bahnhofsuhr aus der Halle rollte, hatte er das Fenster erreicht. Er riß dem Chinesen mit den goldenen Schneidezähnen die Ledertasche aus der Hand, und dann blieb er stehen. Leider prallte ihm jetzt der junge Herr Lüders voll in den Rücken. „Entschuldigung“, stammelte er.
„Macht nichts“, erwiderte der Kommissar. Er strahlte plötzlich wie ein Schneekönig. „Dafür dürfen Sie mir noch zweimal in den Rücken knallen“, meinte er und übergab seinem Assistenten die dunkelbraune Ledertasche.
Die Glorreichen Sieben applaudierten begeistert, als der lange Herr Michelsen an ihnen vorbeikam.
„Olympiareif“, bemerkte Karlchen Kubatz.
„Besten Dank für die Blumen“, lachte der Kommissar. „Und besten Dank auch den Herren vom Haus Seestern.“ Er deutete eine Verbeugung an. „Jetzt würde ich Vorschlägen, daß ihr vorsichtig nach Hause radelt. Morgen besuche ich euch.“
Schon eine Viertelstunde später angelte Herr Albert Landauer im Büro der Kriminalpolizei widerwillig den kleinen Schlüssel aus seiner Westentasche.
„Sie wollen doch nicht, daß ich Ihnen alle
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