Der kalte Himmel - Roman
jetzt vom Amtsarzt, bei der Einschulung. «
» Das zählt nicht « , meinte Alex. » Der ist doch mindesten so beschränkt wie der Pfarrer. «
Beide sahen sich an.
» Fahr nach München zu Ärzten, die sich auskennen « , riet Alex mit Nachdruck. » Nur so kommst du weiter. «
In diesem Augenblick fuhr Paul mit seinem blauen Ford auf den Marktplatz, um seine Frau mit ihrem abgebauten Verkaufsstand abzuholen. Erst als er aus dem Wagen stieg und sich suchend nach ihr umblickte, bemerkte Marie, dass sein Gesicht die rosige Frische des Morgens verloren hatte. Ganz grau sieht er aus, dachte sie, da ist etwas schiefgegangen.
*
Schweigend saßen sie nebeneinander, als Paul den Wagen zurück zum Moosbacher Hof lenkte. Schweigend trug er die Kisten zurück in die Scheune. Für einen Moment blieb er stehen. Er starrte auf die Hopfenmaschine und dachte daran, mit wie viel Hoffnung und Zuversicht er sich zu diesem Kauf entschlossen hatte. Jetzt stand er da, ohne sein Erntegeld, dafür mit einem Berg voller Schulden für die Maschine. Wenn er nur daran dachte, wie Schenkhofer ihm das Geld einfach auf den Tisch geworfen hatte, wurde ihm übel. Ein Schurkenstück war das. Was zum Teufel ließ den Kerl glauben, er könnte ihn einfach mit der Hälfte abspeisen?
Der Mittagstisch verlief noch wortkarger als sonst. Nur Lena und Max stupsten sich verstohlen an und schienen guter Dinge zu sein. Marie beobachtete Felix, der gleichförmig wie immer den Blicken der anderen auswich und das Essen in sich hineinschob. Er saß da, wie er wohl auch alleine dagesessen hätte. Es gab nichts an den anderen, was ihn zu interessieren schien. Ihre Schwiegermutter Elisabeth aß mit einem verbitterten Zug um den Mund und hatte es vorgezogen zu schweigen. Man konnte nur ahnen, was in ihr vorging. Die Miene ihres Mannes war so finster, sein Ton so gereizt, dass man schon blind und taub sein musste, um nicht zu sehen, was mit ihm los war. Xaver hütete sich nachzufragen. Auch Marie drängte ihren Mann nicht. Er hatte den Kauf der Hopfenmaschine gegen alle Vernunft durchgesetzt. Nun musste er sehen, wie er aus dem Schlamassel wieder herauskam. Sie quälten andere Sorgen.
In dieser Nacht lag sie lange wach und dachte nach. Schon vom Tag seiner Geburt an war Felix ihr anders erschienen. Anders als ihre größeren Kinder, anders als die Nachbarskinder, die sie kannte. Aber ist nicht jedes Kind auf irgendeine Art anders als die anderen? Die Eigenheiten ihres Jüngsten waren ihr nie wirklich als Problem vorgekommen, erst die bevorstehende Einschulung hatte ihre Aufmerksamkeit geschärft. Denn das, was für sie alltäglich war, wurde von Fremden offenbar ganz anders beurteilt.
Vielleicht lag es daran, dass sich die ganze Moosbacher-Familie im Laufe der Jahre auf Felix’ Eigenheiten eingestellt hatte. Sie fanden nichts dabei, wenn sich der Junge zurückzog, wenn er nicht mit den Größeren spielen mochte und am liebsten vor seinem geliebten Radio saß, um die Wetterberichte zu hören. Nur ihre Schwiegermutter mochte sich mit einem Sonderling unter ihrem Dach nicht abfinden. Elisabeth hatte nie aufgehört, über Felix’ Eigenheiten zu klagen, aber auch daran war die Familie gewöhnt. Mit ihrer missglückten Teufelsaustreibung hatte sie ihren Nörgeleien jedoch die Krone aufgesetzt. Ein zweites Mal würde sie sich nicht an dem Jungen vergreifen. Wie wahnsinnig musste man sein, um einen kleinen Jungen so zu quälen?
Und Paul? Hielt er seinen Sohn für dumm, nur weil er wenig redete und einen nicht gerne ansah? Paul verstand seinen Sohn nicht, er stand nicht hinter ihm, wenn es darauf ankam. Einem Jungen, der besser rechnen konnte als manche Volksschulklasse zusammen. Und doch von seinem Rektor für nicht schulfähig gehalten wurde. Mit sich selbst schien dieses Kind im Reinen, nur das Zusammensein mit anderen wurde oft zum Problem. Aber was fehlte ihm dann? Was war die Ursache für dieses Anderssein?
Marie wälzte sich hin und her, zwischen Wachen und Schlafen drehten sich ihre Gedanken im Kreis und fanden zu keinem Ende. Letztendlich tappten sie doch alle im Dunkeln. Alex hatte recht. Felix’ Anderssein konnte viele Gründe haben. Und wie sie es auch drehte und wendete, es führte kein Weg daran vorbei: Felix musste richtig untersucht werden. Sie musste mit ihm nach München fahren.
*
Nachdem Marie ihre Kinder am anderen Morgen auf den Schulweg geschickt hatte, kam Paul in seinem besten Anzug die Stiege herunter. Marie reichte ihm seinen Kaffee und
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