Der kalte Himmel - Roman
aus der Ruhe bringen ließ. Und nun das. Noch nicht einmal mehr reden konnten sie miteinander. Und doch wusste Paul, dass er in der Sache Felix nicht nachgeben durfte. Einmal muss man Entscheidungen treffen, hatte der Rektor gesagt. Es gab keinen Weg zurück.
Als Paul früh am anderen Morgen in die Küche trat, um Felix erneut mit dem Auto nach Sonnroth zu fahren, saßen seine beiden Ältesten alleine am Frühstückstisch.
» Wo ist die Mama? « , fragte er verblüfft.
» Fort « , sagte Lena.
Paul starrte sie sprachlos an. Seine Kehle wurde ganz trocken. » Wie? « , sagte er barsch.
» Nach München « , antwortete Max und zuckte die Achseln.
Paul war so überrascht, dass er sich wortlos auf einen Stuhl sinken ließ. Er starrte auf den Platz seines Jüngsten. Er war leer.
*
Eine fahle Wintersonne lag über der hügeligen Landschaft, als Alex’ Bus bei Ingolstadt von der Landstraße auf die Autobahn nach München abbog.
Tief in Gedanken versunken, sah Marie aus dem Fenster hinaus auf die schneebedeckten Wiesen. Auf der Rückbank saß Felix. Sein Kopf lag vornübergesunken auf seiner Brust und wippte bei jeder Fahrbewegung sanft vor sich hin. Schon nach wenigen Kilometern war der Junge wieder eingeschlafen, kein Wunder, so früh wie sie ihn heute Morgen aus dem Bett holen musste. Noch vor halb sechs hatte Marie mit ihm in völliger Dunkelheit den Hof verlassen, gemeinsam waren sie über die Landstraße ins Dorf gelaufen, wo sie bereits von Alex erwartet wurden.
» Und du hast wirklich mit niemandem gesprochen? « , fragte Alex vorsichtig.
Marie schüttelte den Kopf. » Mein Mann hält mich für einen Dickschädel « , sagte sie leise. » Und im Dorf glaubt auch jeder, dass ich um jeden Preis recht behalten will. «
Von ihrem Fahrersitz warf ihr Alex einen Blick zu. » Und? « , fragte sie gedehnt. » Willst du? «
» Natürlich will ich « , antwortete Marie und verzog ihren Mund. Nun mussten beide Frauen lachen.
*
Als sie nach München einfuhren, fluteten die Erinnerungen über Marie herein. Als junges Mädchen war sie einmal in München gewesen, nach dem Tod ihrer Mutter hatte man sie dort zu einer Tante geschickt, die sie in Hauswirtschaft und Kinderpflege unterweisen sollte. Die Erinnerung an diese Wochen brannte noch immer in ihrer Seele. So verloren hatte sie sich niemals zuvor gefühlt, so allein, so abgeschnitten von allem. Für die Schönheit der Stadt hatte sie damals keinen Blick, sie zerbarst fast vor Heimweh und konnte nicht begreifen, dass dieses Heimweh einem Menschen galt, der nicht mehr war, und einem Zuhause, das so nicht mehr sein würde.
Nach ihrer Rückkehr hatte sie dort, wo es einst warm und liebevoll zugegangen war, nur noch Kälte und Verlorenheit gespürt. Über seine Trauer war ihr Vater ganz stumm geworden, unfähig, sich und seinen Kindern eine Orientierung zu geben. Als ältester Tochter war ihr bald die Aufgabe zugekommen, die drei jüngeren Geschwister zu versorgen. Tagein, tagaus blieb sie nun ans Haus gefesselt, während ihre einstigen Schulkameraden eine Lehre machten, am Wochenende tanzen gingen und sich amüsierten.
Sie hatte sich so allein gefühlt, dass sie schon dachte, sie würde bestimmt nie einen Mann finden. Doch dann kam Paul. Auf einer Familienfeier stand er plötzlich vor ihr. Vom ersten Augenblick an gefiel er ihr. Sein Blick, seine Stimme, alles schien wie für sie gemacht zu sein. Und auch er hatte sich auf der Stelle in dieses Mädchen verliebt, das ernster schien als andere, so unverstellt und klar in ihrem Tun, dass sie ihm viel reifer erschien als andere in ihrem Alter. So jung, wie sie war, so schien ihr doch an seiner Seite eine Kraft zuzuwachsen, an die sie schon selbst nicht mehr geglaubt hatte. Ja, sie liebte ihn. Und sie erfuhr durch ihn, dass die Liebe das Schwere leichter macht.
Umso härter hatte es sie getroffen, das sie einander nun wie Fremde gegenüberstanden, dass von einem Tag auf den anderen kein Weg mehr über den Abgrund führte, der sich in ihrer Familie aufgetan hatte und der alles in Stücke zu reißen drohte.
*
» They said, there is no reason « , tönte es aus dem Radio, als der Bus in die Straße vor der Universitätsklinik einbog.
Alex, die spürte, dass Marie die Musik gut gefiel, sagte: » Das ist Bob Dylan. Kennst du ihn? «
Marie schüttelte den Kopf. » Ich kann kein Englisch « , brachte sie verlegen hervor.
» Das Lied erzählt davon, dass man manchmal keinen Grund benennen kann, keinen Grund dafür, dass
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